Zum Abgleich mit der Wirklichkeit

Zum Abgleich mit der Wirklichkeit

von Enno Kaufhold

Dorothea Langes „Migrant Mother“ aus dem Jahr 1936 steht beispielhaft für Fotografien, die den Status eines Tatsachenbilds haben – auch wenn inzwischen bekannt ist, dass sie inszeniert wurden

Kein Tag vergeht, an dem nicht über Migrationsbewegungen auf irgendeinem Gebiet des Globus berichtet wird. Gegenwärtig beherrschen die Fluchtströmungen aus dem afrikanischen Kontinent die Schlagzeilen. Den elektronischen Medien obliegt heute die dominierende Rolle bei der Distribution entsprechender Nachrichten, während es der in der Medienhierarchie nachgeordneten Fotografie anheimgegeben ist, die konzentrierteren und mithin nachhaltigeren Bilder zu schaffen. Einen historischen Beleg für die Nachhaltigkeit von Fotografien bietet Dorothea Langes allseits bekannte Fotografie der Migrant Mother, die sie 1936 im Auftrag der Resettlement Administration (RA), der späteren Farm Security Administration (FSA), in dem zwischen Los Angeles und San Francisco gelegenen Ort Nipomo fotografierte. Ungeachtet aller ansonsten existierenden schriftlichen, filmischen und sonstigen Berichte aus den Jahren der Großen Depression, die der Börsencrash 1929 verursacht hatte, nimmt dieses Bild bis heute eine ikonische Stellung ein. Tausendfach veröffentlicht, zeigt es in leicht lesbarer Form das menschliche Leid, wie es damals in Verbindung mit den aus der allgemeinen Armut hervorgegangenen Migrationsströmen in den USA verbreitet war.

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Von der allgemeinen Rezeption abgesehen, gibt dieses Bild ein exponiertes Beispiel, wenn es um die grundlegende Frage nach der Wahrhaftigkeit des Dokumentarischen in der Fotografie geht – verkörpert Langes Fotografie doch die mit der FSA-Fotografie verbundenen Vorstellungen des Dokumentarischen schlechthin. Als solche bietet sie einen Referenzpunkt für die mit dem Vordringen der digitalen Fotografie unmittelbar verknüpfte Frage nach der Wahrhaftigkeit und damit der Glaubwürdigkeit heutiger digital generierter Bilder, denn mit dem Wechsel in die Digitaltechnik hat das vermeintlich fotografische Bild, das einst mit allergrößter Wahrhaftigkeit beleumundet war, stark an Glaubwürdigkeit verloren. Daraus erwachsen insbesondere im Bereich der sozial orientierten Fotografie gravierende Probleme. 2014 etwa erregten in der Vorrunde des renommierten World-Press-Photo-Wettbewerbs 22 Prozent der Bilder Anstoß wegen zu deutlich vollzogener Eingriffe in die Motive (im Vorjahr waren es lediglich acht Prozent gewesen). Es wurde in der Beurteilung zwar zwischen Bildbearbeitung und Bildmanipulation unterschieden – den Veranstaltern waren die fließenden Übergänge durchaus bewusst –, um jedoch sicherzugehen, verlangten sie von den in der Endausscheidung verbliebenen Teilnehmern die Rohdaten. Das verrät zum einen den weiterhin hochgehaltenen Anspruch, dass Glaubwürdigkeit beim journalistischen Bild gewährleistet bleiben muss, womit der ethische Aspekt gemeint ist. Zum anderen wissen alle Beteiligten, dass es die Digitalfotografie ohne Nachbearbeitung der Rohdaten nicht gibt, und insofern geht es darum, was an intentionalen Eingriffen erlaubt sein soll und was als Verfälschung zu brandmarken ist.

"Migrant Mother" von Dorothea Lange, 1936 (retuschierte Version)
© Library of Congress, Prints & Photographs Division, LC-USF34-9058-C

Generell betrachtet treffen hier Idealismus und Realismus aufeinander. Das ist in der Kunstgeschichte ein altes Thema, das seine Hochblüte jedoch nicht zufällig zu der Zeit erlebte, als die Fotografie aufkam. Denn mit den Fotografien traten den traditionell handwerklich geschaffenen Bildern (mit deutlichem Hang zum Ideellen) erstmals neue, technisch geschaffene Bilder (mit deutlich realistischeren Ansichten) an die Seite und provozierten einen Abgleich mit der so sichtbar werdenden Welt. Die heftigsten Auseinandersetzungen fanden im 19. Jahrhundert in Frankreich statt, dem Geburtsland der Fotografie. Der idealistischen Salonmalerei traten Künstler wie Gustave Courbet (1819–1877) mit realistischem Anspruch entgegen.

Dieser Rückblick auf die Historie und im Besonderen auf die Malerei ergibt insofern Sinn, ist sogar zwingend, da die digitale Fotografie der handwerklichen Bildproduktion wegen der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des Composings wieder nähersteht als der vorausgegangenen analogen Fotografie. Folglich geht es heute im Kern um die grundlegende Entscheidung, welche Wahrheiten wir gelten lassen wollen oder – anders formuliert – wie viel Idealismus dem Realismus des faktengenauen digitalen Bilds erlaubt sein soll.

In diesem Zusammenhang gibt Dorothea Langes weltberühmtes Motiv der Migrant Mother uns Antwort auf aktuelle Fragestellungen. Dem bis heute beschworenen Ideal des Dokumentarismus zufolge darf das Fotografierte vom Fotografierenden nicht angetastet werden, alles muss so fotografiert werden, wie es vorgefunden wurde. Doch hat sich Dorothea Lange in diesem Fall daran gehalten? Mittlerweile sind viele der mit dieser archetypischen Mutter-Kind-Darstellung verbundenen Fakten verlässlich recherchiert. Deshalb lässt sich sagen, dass Langes Bild die Vo-raussetzungen für den Gewinn eines World-Press-Preises nicht erfüllen würde. Anhand der mittlerweile bekannten sieben Motivvarianten, die damals binnen weniger Minuten entstanden, lässt sich erkennen, wie sich Dorothea Lange der Frau mit ihren Kindern Bild für Bild näherte und dass sie bei dem heute bekanntesten Bild mit dezidierten Anweisungen in das Geschehen eingriff. Als praxiserprobte Porträtistin, und als solche mit Posen bestens vertraut, wies sie die beiden Mädchen an – und das ist das Mindeste, was allein aus den Bildern selbst herauszulesen ist –, sich mit abgewandtem Blick an die Mutter zu schmiegen. Vermutlich dirigierte Lange auch die Handhaltung und den in sich gekehrten Blick der Frau, sodass sie vom Betrachter keine Notiz nimmt und den Eindruck noch größerer Verlorenheit macht.

Der aus ethischen Gründen hochgehaltene absolute Dokumentarismus respektive Realismus nützt niemandem

Dass Lange den Ausschnitt des Motivs enger zog als im Negativ erfasst, kommt keiner gravierenden Veränderung gleich, anders dagegen das nachträgliche Beseitigen des Daumens der Frau, der an der rechten Bildkante auf dem Holzstamm auflag. Den ließ Dorothea Lange, nachdem die ersten Vergrößerungen bereits im Umlauf waren, auf dem Negativ per Retusche entfernen. Ein Eingriff, der angeblich von Roy Stryker, dem Leiter der FSA, kritisch kommentiert wurde. Davon abgesehen, dass die zunächst für die Bildlegende erfassten Fakten von den tatsächlichen abwichen (die Aufnahmen waren zum Beispiel nicht, wie es ursprünglich hieß, im Februar, sondern im März 1936 gemacht worden, und die Frau hatte zu dem Zeitpunkt bereits acht und nicht, wie angegeben, sieben Kinder), blieb unerwähnt, dass es sich um eine indigene Frau vom Stamm der Cherokee handelte. Wie Dorothea Lange im Februar 1960 in der Zeitschrift Popular Photography freimütig bekannte, hatte sie die Frau weder nach ihrem Namen noch nach ihrer Lebensgeschichte gefragt. Die lange Zeit anonym gebliebene Frau ging Ende der 70er-Jahre selbst an die Öffentlichkeit, woraufhin ihr Name, Florence Owens Thompson, und zugleich ihre indigene Abstammung bekannt wurden. Diesem Sachverhalt kommt insofern für die Rezeption größere Bedeutung zu, als Dorothea Langes Porträt für die weiße und weithin der Mittelschicht zugehörende Leserschaft der US-amerikanischen Printmedien eine Frau ihresgleichen zeigte. Damit rückte die dargestellte Not der weißen Mittelschicht näher und nicht, wie es eher zu vermuten gewesen wäre, den traditionell weniger bemittelten anderen ethnischen Gruppen.

Dorothea Langes Bild ist nur ein Beispiel in der Geschichte solcher Fotografien, die ungeachtet ihrer Inszenierung den Status eines Tatsachenbilds erlangt haben. Denken wir an Robert Capas tödlich getroffenen Milizionär während des Spanischen Bürgerkriegs 1936, Joe Rosenthals Flaggenhissung in Iwo Jima vom 23. Februar 1945 oder diejenige von Jewgeni Chaldei auf dem Reichstag am 2. Mai 1945. Fotografien wie diese wurden ungeachtet der Inszenierung zu Ikonen der Weltgeschichte. Keines dieser Bilder verzerrt die tatsächlichen Gegebenheiten oder verkehrt sie womöglich in eine entgegengesetzte Bedeutung; in allen Fällen diente das Inszenieren der Optimierung der Bildsemantik und mithin der konkreten Lesbarkeit. Dorothea Lange knüpfte unübersehbar an die Ikonografie der Madonnenbildnisse mit Kind sowie zugleich an Pietà-Darstellungen an. Das verleiht ihrem Bild neben dem appellierenden Charakter zugleich eine kunstgeschichtliche Dimension.

Als Ergebnis dieser Rezeptionsgeschichte ist schlussfolgernd zu raten, die Kriterien für das, was heute angesichts digitaler Bildtechnologie als akzeptabel gelten soll, noch einmal zu überdenken. Und das meint, das Spektrum des Erlaubten sollte eher erweitert werden. Der aus ethischen Gründen hochgehaltene absolute Dokumentarismus respektive Realismus nützt niemandem. Warum soll, was wir für Dorothea Langes Migrant Mother und andere Fotografien gelten lassen, nicht auch bei heute digital generierten Bildern gültig sein, solange die Wahrheit nicht erkennbar verfälscht wird. Die Wahrheit ist ohnehin nicht allein aus der Immanenz von Bildern zu gewinnen, sondern nur in Verbindung mit konkreten Kontexten. stop

Dr. Enno Kaufhold, geboren 1944, lebt als freier Fotohistoriker, Dozent, Ausstellungskurator und Publizist in Berlin

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