Fotografie von Franz Bischof
Text von Raphael Geiger
Kiruna
Als nördlichste Stadt Schwedens und Außenposten des Bergbaus ist Kiruna eine Stadt der Konflikte. Mitten im alten Gebiet von Skandinaviens Ureinwohnern, den Samen, treibt die Stadt den Raubbau an der Natur so weit, dass sie selbst um fünf Kilometer versetzt werden muss. Ein Besuch am gefühlten Ende der Welt.
Der Canyon ist Jan Vajstedts Schicksal. Er ist ein Freund von Sune. Er hat begonnen, die Häuser zu zeichnen, die bald verschwinden. Erinnerungen in Tusche.
Vom Berg sieht man auch das rote Haus, in dem Kerstin Midmo Täckdal ihr Büro hat. Sie muss den Menschen ein neues Zuhause geben, denen die Mine ihres wegnimmt. Sie ruft Menschen wie Sune an, und sagt: Es tut mir leid, aber Sie müssen raus.
Dann ist da Biruk Woldemedhin. Er lebt in einem grünen Schwedenhaus, etwas weiter draußen. Ein Ingenieur aus Äthiopien, der Arbeit in der Mine gefunden hat. Ein Glückssucher, etwas einsam in Lappland, denn: er fischt nicht, er geht nicht jagen.
Blickt man vom Berg aus zur Mine, sieht man vor ihr noch den Glockenturm des Rathauses, 60er Jahre, rostig geworden. Industriecharme. Die Bürgermeisterin heißt Kristina Zakrisson. Sie verhandelt mit dem Chef der Mine. Davon wird sie uns erzählen, am Montag.
Zuvor aber zur Samstagnacht in Kiruna – die beginnt mit einem Burger bei Empes. Ein Imbiss in einem Holzhaus, man bestellt von der Veranda aus durchs Fenster. Es gibt die Kiruna-Variante eines Cheeseburgers: Zwischen der obersten Fleischschicht muss noch dick Kartoffelbrei und Mayonnaise. Empes Spezial.
Hier macht sich die Dorfjugend bereit für die Nacht. Jungs fahren ihre Freundin im Auto der Eltern durch die Stadt. Gucken, wer unterwegs ist. Mehrere Runden durch den Ortskern. Kurzer Stopp bei Empes. Sie fahren Pick-Ups so hoch wie Lastwägen. Und diese Amischlitten. Kiruna ist eine sehr amerikanische Stadt. Sie lieben ihre Oldtimer. Jeden Moment fährt einer von ihnen vorbei.
Weiter ins Bishop’s, den einzigen Pub von Kiruna. Langer Tresen, immense Bierauswahl. An der Wand hängen Portraits von Churchill. Es gibt Ledercouchen, ein Bücherregal, Teppichboden. Ein Sehnsuchtsort in dieser Stadt, die irgendwie ohne Seele geblieben ist.
Vielleicht lässt sich Kiruna vergleichen mit einer Goldgräberstadt, in die die Menschen ziehen, weil sie mitverdienen wollen, dabei sein beim Goldrausch. Sie siedeln sich an, aber sie leben eigentlich nicht hier. Tagsüber arbeiten sie, abends fallen sie ins Bett oder gehen was trinken. Sie bleiben so lange, bis es kein Gold mehr gibt, dann ziehen sie weiter.
Im Bishop’s finden sie noch Menschen, wenn niemand mehr auf der Straße ist. Es ist der Pub, wo sie ihre Geschichten erzählen können aus dem Alltag nördlich des Polarkreises, und wo immer jemand zuhört. Wo der Burger zuverlässig ist wie ein Schnitzel. Wo man die Abgeschiedenheit wegtrinken kann. Wo man Wärme findet.
Jetzt, in dieser Samstagnacht Ende Juni, in der es nicht dunkel wird, stehen sie kurz nach Mitternacht vor dem einzigen Club, der offen hat. Es ist hell wie an einem deutschen Novembernachmittag. Aber es ist kalt geworden. Drinnen tanzen sie: die Jugendlichen von Kiruna. Gegen Morgen noch ein Mariestad, das schwedische Pils. Einen Wodka. Dann durch die Helligkeit nach Hause.
Sieben Tage bis zum nächsten Samstag.
Montag. Die Woche von Kristina Zackrisson beginnt im Rathaus von Kiruna. Das Gebäude besteht aus einer Halle mit umlaufenden Balkonen. Viel Holz, viel Behaglichkeit. Schrecklicher Kaffee in der Kantine. Zackrisson, die Bürgermeisterin, sitzt in ihrem Büro über einer Karte von Kiruna. Sie zeigt mit einem Stift, welche Viertel als Erstes von dem Umzug betroffen sind. Von dem Umzug, der die halbe Stadt auseinander reißen wird.
Die Forscher der Mine haben noch viel mehr Eisenerz gefunden. Das neue Erz liegt unter der Stadt, deshalb müssen tausende Menschen ihre Häuser verlassen und einige Kilometer weiter nach Osten ziehen, ans andere Ende Kirunas.
Wie macht man das, so viele Menschen entwurzeln, die Stadt komplett verändern? Werden sich die Menschen im neuen Kiruna noch zu Hause fühlen, wenn ihre Häuser abgerissen sind, wenn sie neue Nachbarn haben, wenn alles anders ist?
„Wir werden es nicht hinkriegen, allen Menschen einen guten Ersatz zu bieten“, sagt Zackrisson. Vielleicht, sagt sie, werden die Leute nur noch arbeiten, nach Feierabend nach Hause fahren, fernsehen, und am nächsten Tag wieder arbeiten. Weil die Stadt die Seele verliert, wenn man die Menschen trennt. Die Seele, die es ohnehin kaum gibt.
Kiruna, die Goldgräberstadt: Sie leben hier von der Mine, und sie leben mit der Mine. Menschen ziehen hierher, weil sie einen Job bekommen haben. Menschen, die den Job verlieren, ziehen wieder weg.
Alle wissen, dass die Stadt umziehen muss. Ohne Umzug kein Bergbau, und ohne Bergbau kein Kiruna. Sie sind nicht wütend auf die Mine. Sie schimpfen auf die Bürgermeisterin. Es heißt, sie könne sich nicht durchsetzen. Sie sei zu schwach.
„Die Menschen vertrauen mir nicht“, sagt Kristina Zackrisson. Dabei tue sie doch, was sie kann, in den Verhandlungen mit dem Minenkonzern. Sie sagt: „Die Beziehung zur Mine ist schwierig. Aber insgesamt sie sind freundlich. Ja.“ Dann macht sie eine lange Pause. „Ja, doch, freundlich, insgesamt.“ Und zwischen den vier Wörtern liegt die ganze Ohnmacht dieser Frau.
90 Prozent. So viele, schätzt sie, leben in Kiruna direkt von der Mine oder von einem der Zuliefererbetriebe. Der Gründer der Mine hat um die Jahrhundertwende auch die Stadt gegründet. Ohne die Mine gäbe es die Stadt nicht. Die Leute des Konzerns hielten Kiruna immer für die Ansammlung der Häuser, in denen die Arbeiter wohnten. Wenn es Wohnungsmangel gab, sagten sie nicht: Kiruna hat Wohnungsmangel. Sie sagten: Wir haben Wohnungsmangel.
Eine Schnellstraße führt in die Tiefe. Vom Rathaus geht es zuerst vorbei am Verwaltungsgebäude der Mine. Die Architekten wollten das Uno-Hauptquartier in New York nachbauen. Das sagt der Führer, der mit einer Gruppe Touristen ins Bergwerk fährt. Er meint es ernst. Der Bus rast ohne Licht hinunter in die Erde. Auf minus 565 Meter bleibt er stehen.
Die Schächte sind riesige Tunnel. Sprengungen legen das Eisenerz frei, jede Nacht um 1.20 Uhr, zur Frühschicht kommen die Bagger und fahren das Erz weg. Daneben liegt eine Stadt für sich: Geschäfte, Toiletten, Cafés für die Arbeiter. 565 Meter unter der Erde gibt es noch Handynetz.
Der Führer erklärt die Verlegung der Stadt. Er spricht davon, dass die Mine alles bezahlt. Alle neuen Häuser. Das sei eine Summe von 1,5 Milliarden Euro, was dem letzten Jahresgewinn des Konzerns entspricht. Er sagt, dass in Kiruna das Erz vielleicht nie ausgehen werde, dass man das Ende des Rohstoffs noch nicht entdeckt habe.
Als der Bus oben wieder den Tunnel verlässt, blendet das Licht, und die Stadt Kiruna wirkt trist, gerade bei Sonnenschein. Der Führer hat die Menschen von Kiruna dafür gelobt, dass sie so einsichtig seien, so vernünftig.
Abends kommt Biruk Woldemedhin von der Arbeit in der Mine nach Hause. Er ist 30 Jahre alt, stammt aus Äthiopien und wohnt mit seiner Freundin zusammen. Im Wohnzimmer läuft CNN. Woldemedhin ist Ingenieur. Er hat in Schweden studiert, auf Einladung der Regierung. Nach einem Praktikum in der Mine von Kiruna bekam er ein Angebot.
Jetzt leben sie hier, zu zweit, nördlich des Polarkreises. Sie kennen ein paar Leute, aber viele sind es nicht. Man kann kaum von einem Freundeskreis sprechen. Woldemedhin sagt: „Es ist schwer, mit den Menschen hier in Kontakt zu kommen.“
Woldemedhin ist einige tausend Kilometer in den Norden gezogen, die Globalisierung funktioniert, er fand Geld, er fand ein Haus, und er fand Einsamkeit.
Die Nachbarn sagen Hey, dann gehen sie weiter. Und wenn sie mal reden, dann bleibt es bei dem einen Mal. Man bleibt für sich. Woldemedhin bleibt nach Feierabend in seinem Wohnzimmer und sieht fern. Er ist hier, weil es hier Arbeit gibt. Gut bezahlte Arbeit. Dafür erträgt er die Stille. Die dunklen Tage im Winter.
Einige Stunden später. Auch eine helle Nacht kann unheimlich sein. Wenn es nach Mitternacht ist, und die Straßen leer sind. Wenn das Zwitschern der Vögel das einzige Geräusch ist neben dem Röhren der Mine. Der Lüftungsschacht, ein unendlichen Pusten, Tag und Nacht.
In der Arbeitersiedlung brennt noch in manchen Fenstern Licht, die meisten Wohnungen sind dunkel. Es sind Wohnblocks aus den 60er-Jahren, sie gehören der Mine. Und fast alle, die hier wohnen, verdienen ihr Geld in der Mine oder einem Zuliefererbetrieb. Auf den Türen stehen oft nicht die Namen der Bewohner, sondern die Namen ihrer Firmen. Die Siedlung wird als eine der ersten abgerissen. Nach und nach versucht die Mine, die Menschen umzusiedeln.
Um 1.20 Uhr poltert es unter der Erde. Die Sprengung in der Mine, wie jede Nacht. Einige Minuten später noch einmal. Und noch ein drittes Mal. Wie ein Gewitter von ganz weit weg. Ein Gewitter unter der Erde.
Dann ist es wieder still.
Dienstag. Ans Ende des Arbeiterviertels hat die Mine das Haus ihrer Immobilienverwaltung gebaut. Darin arbeiten Menschen, die die Mieter nach und nach aus ihren Wohnungen vertreiben und ihnen neue Wohnungen besorgen. Wohnungen in Vierteln, die nicht vom Umzug betroffen sind.
Kerstin Midmo Täckdal ist eine von ihnen. Eine fürsorgliche Frau Mitte 40. Ganz sanfte Stimme, immer ein Lächeln. Eine Mutter. Sie nimmt den Leitz-Ordner aus dem Regal, in dem die Fragebögen der Mieter abgeheftet sind.
Da war das eine Paar, das eine Dreizimmerwohnung wollte. Die beiden wünschten sich außerdem eine Sauna. Das hatten sie auf dem Fragebogen vermerkt, den ihnen Täckdal geschickt hatte. Wie viele Zimmer brauchen Sie? Welches Viertel würden Sie bevorzugen? Haben Sie Sonderwünsche?
Es liegt in ihren Händen, was die Bürgermeisterin beschrieb: Den Umzug menschlich zu gestalten. Und manchmal ist sie dann selbst gerührt, wenn sie am Ende ein neues Zuhause für jemanden gefunden hat.
Täckdal rief das Paar an. Sie hatte eine Wohnung gefunden, eine Sauna hatte die aber nicht. Gut, sagten die beiden, sie sahen sich die Wohnung an. Und sie waren einverstanden.
Da war auch die Frau, die zwei Zimmer brauchte. Sie war mit keiner der Wohnungen zufrieden, die Täckdal vorschlug. Täckdal rief immer wieder an, aber die Frau zierte sich. Sie hatte Angst davor, woanders zu leben. „Manchmal muss ich eine Psychologin sein“, sagt Täckdal.
Es liegt in ihren Händen, was die Bürgermeisterin beschrieb: Den Umzug menschlich zu gestalten. Und manchmal ist sie dann selbst gerührt, wenn sie am Ende ein neues Zuhause für jemanden gefunden hat. Wie für die Frau, die nicht umziehen mochte. Es ist gerade einige Tage her, sie hatte sich mal wieder eine Wohnung angesehen. Täckdal hoffte. Am Ende sagte die Frau: In Ordnung. Täckdal umarmte sie. Zurück im Büro schloss sie den Leitz-Ordner.
Um ein Uhr mittags kommt När Sune in seinen Laden gelaufen, er verkauft Hundebedarf und die Schlitten, die er seit fast dreißig Jahren herstellt. Björkis-Hundeschlitten, „berühmt auf der ganzen Welt“, sagt Sune. Er ist 62 und hat einen grauen Vollbart. Demnächst muss sein Geschäft umziehen. Sune ist allerdings vertraut mit Umzügen.
Zum ersten Mal umziehen musste er mit sechs Monaten. Da bekam sein Vater einen Job in der Mine und zog in die Nähe, ins Haus der Tante. Später bekamen sie ihre eigene Wohnung, zweiter Umzug. Dann verletzte sich der Vater und musste zum Wachpersonal. Wieder eine Wohnung, nahe an der Wachstation. Dann fing der Bergbau auch anderswo an, Sunes Familie musste das Haus räumen. Einige Jahre später noch einmal.
Und so ging das immer weiter. Immer waren sie irgendwo der Mine im Weg. Oder die Mine baute neue, bessere Häuser für die Arbeiter, und Sunes Vater beschloss, dass sie wieder die Sachen packen würden. Sune selbst fing in der Mine an. Er arbeitete untertage, bis er aus zwei Hockeystöcken seinen ersten Hundeschlitten baute. Irgendwann eröffnete er sein Geschäft und verließ die Mine.
Sune geht von seinem Geschäft die Straße hinunter, zu einem Haus, in dem er mal gelebt hat. Er trifft sich mit einem Freund von ihm, Jan Vajstedt. Die beiden sind beinah gleich alt. Auch Vajstedt hat in diesem Haus gelebt. Und er hat angefangen, die alten Gebäude von Kiruna zu zeichnen. Auch das, vor dem sie gerade stehen. Erinnerung in Tusche.
Haus Nummer 1B ist ein grau-brauner Pragmatismus. Sune und Janne Vajstedt setzen sich auf die Vorstufe. Vajstedt wird in einigen Jahren sein Haus verlassen müssen, mit Ende 60. Sune ist öfter umgezogen als irgendjemand sonst in der Stadt. Das Weiterziehen war immer Teil seines Lebens.
Teil des Lebens in dieser Stadt, die jetzt zur Hälfte verlegt wird. Und Sune, der endlich in einem sicheren Gebiet wohnt, der sein Geld selbstständig verdient, der nichts mehr mit der Mine zu tun hat, den holt der Bergbau noch einmal ein. Sein Geschäft liegt in der Gefahrenzone. Ende des Jahres wird es verlegen, in ein neues Gewerbegebiet.
Sunes 14. Umzug. Er lacht. Er sagt, es sei schon in Ordnung.
Franz Bischof, 1980 in Berlin geboren. In 2012 schloss er sein Studium Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der FH Hannover ab. 2007 hospitierte er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und arbeitet seitdem als freier Fotograf für redaktionelle Kunden und Auftraggeber aus dem Unternehmens- und PR-Bereich. 2013 gewann er das „stern-Stipendium für junge Photographie“ und arbeitete ein Jahr lang in der stern-Redaktion. Er wird von „laif – Agentur für Photos & Reportagen“ vertreten und lebt in Hannover. www.franzbischof.de
Raphael Geiger, besuchte den 33. Lehrgang der Henri-Nannen-Schule. Stationen bei der „Abendzeitung“, beim „Hamburger Abendblatt“, „Spiegel“, „Spiegel Online“ und „Dummy“. Seit 2012 im Auslandsressort des stern.