von Julius Matuschik & Ingo Bever
Im Namen des Bauherrn
von Dmitrij Leltschuk
Überall in St. Petersburg wird gebaut, das Graue und Rostige unter frischem Weiß versteckt. Meist sind es Gastarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die illegal in Russland leben und unter furchtbaren Bedingungen arbeiten
Sankt Petersburg schläft nie, heißt es. Im Sommer jedenfalls stimmt das, während der weißen Nächte, wenn die Stadt in einer fast surrealen Dämmerung schwimmt. Das stolze Petersburg hat sich schick gemacht, um das graue Leningrad vergessen zu lassen. Piter sagen die Einheimischen wie zu einem Freund und feiern die Nächte zwischen erleuchteten Prachtfassaden, den Newa-Brücken, zwischen Rockmusik und Tanzbären, freizügigen Dekolletés und schrillen Outfits. Aber die Glanzbilder kenne ich schon. Als Reportagefotograf weißrussischer Herkunft interessiert mich der Hintergrund mehr als die retuschierte Oberfläche.
Für Sankt Petersburger gibt es kein »zu spät«, höchstens ein »zu früh«
Mein Handy klingelt. Ein guter Bekannter, ein Einheimischer, will mich zu denen führen, die Experten sind für die Prachtfassaden und zugleich für sämtliche Hinterhöfe der Stadt. »Ist es nicht zu spät?«, frage ich. Mein Bekannter lacht mich aus. Für Sankt Petersburger gibt es kein »zu spät«, höchstens ein »zu früh«. Bloß niemanden morgens anrufen, lieber abends, je später, desto besser. Jetzt ist Mitternacht – genau die richtige Zeit für neue Bekanntschaften. Auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt, vorbei an geöffneten und erleuchteten Buchläden, versuche ich, all das so selbstverständlich zu finden, als wäre das meine Stadt. In der Hand halte ich einen Zettel mit der Adresse einer Gemeinschaftswohnung am Moika-Ufer. Ein altes Haus aus Dostojewski-Zeiten, in dem Raskolnikow aus Schuld und Sühne gelebt haben soll. Jetzt ist es rosa gestrichen, die Attraktion im Untergeschoss ist ein Schwulenclub. Unter dem Dach wohnen Gastarbeiter aus Usbekistan und dem Kaukasus.
Gastarbeiter. Ein deutsches Wort, das den Weg ins Russische gefunden hat, so wie Hunderttausende Arbeiter aus den ehemaligen östlichen und südlichen Sowjetrepubliken in die westlichen russischen Metropolen Moskau und Sankt Petersburg zogen. Hier gibt es Rubel zu verdienen, die die Existenz sichern, die eigene und die der Familie daheim.
Vor der Tür halte ich inne. Wer bin ich hier eigentlich? Ein Kind der alten UdSSR, das sich als Fremder im neuen Russland wiederfindet? Wer bin ich für die, die ich gleich treffen werde? Ein Glückspilz, der es in den reichen Westen geschafft hat? Ich klingle, hinter der Tür ist es deutlich schummriger als in der weißen Petersburger Nacht. Nur eine staubige Glühbirne beleuchtet ausgeblichene Tapeten im Flur, wahrscheinlich Relikte der Sowjet-union. Leri hat mir geöffnet, ein kräftiger Georgier, der mich höflich hereinbittet in einen langen, engen Raum mit noch spärlicherer Beleuchtung. Die Wände entlang stehen acht Etagenbetten, am Ende des Raums fällt der Blick auf ein winziges Fernsehgerät. Sieben asiatische Augenpaare schauen mich an, nicht unfreundlich, aber ein bisschen misstrauisch.
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»Hallo«, sage ich, garantiert eine Idee zu laut und zu kumpelig, »hallo, ich heiße Dmitrij und bin Fotograf. Ich lebe als Gastarbeiter in Deutschland und will in Piter eine Reportage über meine hiesigen Kollegen machen!« Jetzt ernte ich das erste Lachen. Ein Gastarbeiter aus Deutschland, das klingt zu absurd. Niemand käme bei geistiger Gesundheit doch wohl auf die Idee, aus dem glücklichen und sorgenfreien Deutschland ausgerechnet nach Russland zu fahren und dann auch noch Gastarbeiter aus Mittelasien zu porträtieren. »Tja, was sagt euch das über die geistige Gesundheit der Fotografen in Deutschland?« Der Bann ist gebrochen, ich darf bei ihnen Platz nehmen. »Also«, stellt der Georgier Leri fest, »höchste Zeit für einen richtigen usbekischen Plow« – und verschwindet.
Die Bemerkung lässt für einen Moment einen Schatten über die Gesichter wandern. In dieser Nacht bekomme ich jedenfalls keinen Plow, den nationalen Stolz der Usbeken, gemacht aus Reis, Lammfleisch und Gewürzen. Auch nicht am nächsten oder übernächsten Tag, an keinem meiner Abende in Sankt Petersburg. Warum das so ist, verstehe ich noch nicht, als Spiegeleier auf den Tisch gestellt werden. Wir essen direkt aus der Pfanne – ich mit Yodgorbek, dem ältesten der Männer mit einem erstaunlich beweglichen Schnurrbart. »Wir dachten schon«, ruft eine Stimme aus dem halbdunklen Raum, »dass du vielleicht für Nascha Russia drehen willst.« Bitteres Gelächter. Nascha Russia (Unser Russland) ist eine Comedy-Fernsehsendung, in der die Gastarbeiter Rawschan und Dzhamschut die Witzfiguren abgeben: dumm, dreckig, unfähig. Ein Publikumsrenner, der meinen neuen usbekischen Bekannten jede Woche deutlich macht, was man in der russischen »Hauptstadt der Kultur« von ihnen hält.
Die Gasleitung hängt direkt über den Flammen
Ich verabrede mich mit den Arbeitern für den nächsten Tag. Sie sind sogar damit einverstanden, dass ich die Kamera mitbringen will. Die Nacht ist kurz – hieß es nicht, die Usbeken seien gerade erst von der Schicht zurück? Und morgen früh sollen sie schon wieder anfangen? »Salam aleikum« klingt mir bei Arbeitsbeginn entgegen. Wir sind am Fontanka-Ufer, hier soll ein Restaurant entstehen. Eine Etage höher liegt ein Bordell, dessen Broschüren an jeder Petersburger Kreuzung verteilt werden. Wie auch die der vielen anderen Etablissements, denn solche gibt es reichlich in der Stadt. Dort arbeiten vor allem Frauen aus der Ukraine. Gastarbeiterinnen sozusagen, aber viel beliebter und besser bezahlt als Bauarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken.
Nach ein paar Stunden Schufterei laden sie mich zum Mittagessen ein; inzwischen nennen sie mich schon »Bruder«. Gegessen wird dort, wo eben noch gearbeitet wurde. Der Jüngste aus dem Team, der 22-jährige Temur, kocht in einem kleinen Nebenraum, wo die Luft feucht und trotzdem voll Betonstaub ist. Die Gasleitung, ein Gummischlauch, hängt direkt über den Flammen eines alten Herds. Das macht Temur aber keine Sorgen, sagt er. Es gebe ohnehin keine andere Möglichkeit, Essen zu machen, und die billigste Kantine der Stadt ist für die Gastarbeiter immer noch viel zu teuer. Das sagt Temur natürlich nicht.
Die weitaus meisten Gastarbeiter sind illegal in Russland
Flink wirft er Fleisch in den Topf und rührt um. Fleisch? Ich sehe nur erbärmliche Überreste eines Huhns, Knochen mit ein paar Fetzen Fleisch. Beinahe ein Festessen, normalerweise gibt es nur Nudeln oder Kartoffeln. Eine Zwickmühle: Ablehnen darf ich nicht, und wenn ich etwas zu essen beisteuerte, wären die Gastgeber beleidigt. Also bringe ich wenigstens reichlich Bier und Cola mit. Das usbekische Nationalgericht Plow? Nicht dran zu denken. Die Löhne stehen aus, das restliche Geld reicht nur knapp fürs magere Mahl. Zurück fahre ich mit der U-Bahn, einer einzigen, verzweigten Baustelle. Überall wird repariert, das Graue und Rostige unter frischem Weiß versteckt. An den Umsteigestationen zwischen den Linien stehen auf beiden Seiten Milizionäre und schnappen sich aus der dichten Menschenschar ab und zu Männer – alle werden kontrolliert, alle haben asiatische oder kaukasische Gesichtszüge. Die weitaus meisten Gastarbeiter sind illegal in Russland. Für die Aufenthaltsgenehmigung bräuchten sie einen Arbeitsvertrag, doch gerade den wollen die Arbeitgeber umgehen. Dazu kommen außenpolitische Probleme: Seit dem letzten Krieg zwischen Russland und Georgien sind die diplomatischen Beziehungen abgebrochen, sodass georgische Bürger keine Chance auf ordentliche Papiere haben.
Zeitungen und Fernsehen berichten in einem fort von Überfällen der Rechtsradikalen auf Gastarbeiter und ihre Familien.
Dabei braucht das demografisch geschwächte Russland immer wieder Millionen von Arbeitern aus den benachbarten Ostrepubliken, wo die Löhne niedriger sind und man Russisch spricht. Nach Ansicht von Experten des UNO-Entwicklungsprogramms UNDP muss Russland in naher Zukunft jährlich an die zwei Millionen Gastarbeiter ins Land holen, um das derzeitige Wirtschaftswachstum zu halten. Die russische Regierung sehe das Problem und sei bemüht, »notwendige Gesetze und Bedingungen für Integration und Legalisierung von Migranten zu schaffen«, erklärte der russische Finanzminister nach der Veröffentlichung des UNO-Berichts. »Die Gastarbeiter sollen keine Angst haben müssen, Steuern zu zahlen, sich zu registrieren und Geld in ihre Heimat auf offiziellem Weg zu überweisen«, kündigte er an. Doch noch ändert sich nicht viel.
Was die einheimischen Arbeiter angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit denken, ist keine Überraschung. »Was soll ich dazu sagen?«, empört sich ein russischer Fassadenmaler, »wenn ich einen Quadratmeter für 200 Rubel streiche, macht es ein Usbeke für 100. Wer wird den Auftrag wohl kriegen?« Er ist nicht allein mit seiner Meinung. Die Gastarbeiter werden als Witzfiguren, aber auch mit offener Aggressivität als gierige Heuschrecken wahrgenommen – gepaart mit dem explodierenden russischen Nationalismus eine gefährliche Mischung. Zeitungen und Fernsehen berichten in einem fort von Überfällen der Rechtsradikalen auf Gastarbeiter und ihre Familien. Umgekehrt mahnen sie auch zur Vorsicht in der Nähe von asiatisch aussehenden Menschen und schüren so die Aggressivität – auf beiden Seiten.
In der zweiten Woche in Petersburg wird der Kreis meiner Bekannten größer. Mit Kirill, einem 28-jährigen Jurastudenten, der als Fassadenmaler in den himmelhohen Schächten der Hinterhöfe an Seilen hängt, plaudere ich über Psychologie und die Musik von Rammstein und über das Leben der Gastarbeiter. »Du glaubst, Leri und den anderen geht es schlecht? Vergiss es.« Er gibt mir eine Adresse. In einem Keller treffe ich vier Männer aus Usbekistan und Georgien, die die historische Fassade des Hauses restaurieren. Hier hausen sie, in diesem kalten und feuchten Labyrinth. Der Putz fällt von den Wänden, Wasser zum Trinken und Kochen zapfen die Männer aus einem durchgerosteten Rohr ab. Eine Toilette sucht man vergebens. Ganz schnell darf ich ein paar Fotos machen, allerdings nicht im sogenannten Schlafzimmer, das mit einem Plastikvorhang abgetrennt ist und aus vier Luftmatratzen mit alten Decken auf dem schlammigen Boden besteht. Nach einer halben Stunde soll ich gehen. Länger hätte ich es auch nicht ausgehalten, ununterbrochen attackieren mich Scharen von Mücken.
Am nächsten Tag besuche ich wieder die Gastarbeiter am Moika-Ufer. Die schäbige, aber mückenfreie Wohnung scheint mir jetzt ganz komfortabel. Als ich eintrete, sind alle mit ihren Handys beschäftigt. Das Mobiltelefon spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben, auch wenn ein Anruf für sie viel zu teuer ist. Aber der Gruppenleiter gibt per Telefon seine Anweisungen durch. Vor allem aber nutzen sie es als universelle Medieneinheit. Auf den kleinen Displays erscheinen die Fotos von Müttern, Ehefrauen, Cousins und Onkeln, die sie seit Jahren nicht gesehen haben. Und während der Arbeit dudelt russische und usbekische Musik aus dem Handyspeicher. Für den kommenden Tag, ein Sonntag und mein letzter Tag in Piter, schlage ich einen Spaziergang durch die Stadt vor.
Alle sagen zu, doch dann erscheint nur Yodgorbek am Treffpunkt, mit dem ich beim ersten Essen mit den Usbeken das Spiegelei geteilt habe. Die anderen können sich die U-Bahn-Fahrt nicht leisten, haben mir das aber aus Scham verschwiegen. Yodgorbek ist dafür blendender Laune. Ein alter Freund aus Usbekistan ist in der Stadt und will ihn heute noch sehen, das erste Treffen seit Jahren. Am Leninplatz klingelt tatsächlich Yodgorbeks Telefon, und strahlend eilt er Richtung U-Bahn. Allein bleibe ich vor dem Denkmal des Mannes stehen, der einst ein riesiges Imperium erschaffen hat. Glatt und makellos scheint die schwarze Ober-fläche. 67 Jahre lang hat diese Stadt seinen Namen getragen: Wladimir Iljitsch Lenin. stop
Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, war vor seinem Umzug nach Deutschland freier Journalist. Von 2002 bis 2007 studierte er an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften Medientechnik/Audiovisuelle
Medien, seitdem arbeitet er als freier Fotograf. Dmitrij Leltschuk wird von der Agentur laif vertreten und lebt in Hamburg www.leltschuk.com
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Der Text zu Im Namen des Bauherrn entstand in Zusammenarbeit mit Kornelia Roßkothen
Diese Story erschien erstmals in emerge 01 – Migration
Format: 23,5 x 31cm
Seiten: 120
Abbildungen: 107
Sprache: Deutsch
Auflage: 1000
Erscheinungsdatum: 2015
Druckverfahren: Offset-Druck
Bindung: Fadenbindung
Papier: Luxoart Samt 135g/m²
ISSN: 2364-6713
Lieferstatus: sofort lieferbar
Lieferzeit: 3-5 Werktage
Preis: €15,00 zzgl. Versandkosten
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