Guten Morgen, San Roque

Guten Morgen, San Roque

von Lena Mucha

Zehn bis zwölf Millionen Roma leben heute in Europa. Ursprünglich aus Indien beziehungsweise dem heutigen Pakistan stammend, kamen ihre Vorfahren, unterschiedliche ethnische Gruppen, vor mehr als 1 000 Jahren über Persien, Kleinasien und den Kaukasus nach Europa. Aufgrund von Kriegen, Verfolgung, Vertreibung sowie aus wirtschaftlicher Not waren sie für einige Jahrhunderte zu ständigem Wandern gezwungen, und so entstand die auch heute noch weitverbreitete Vorstellung von einem homogenen Nomadenvolk. Inzwischen sind über 90 Prozent der europäischen Roma sesshaft.

Auch in Spanien, zusammen mit Rumänien und Bulgarien das Land mit der zahlenmäßig größten Roma-Bevölkerung, hat der Großteil der geschätzten 700 000 gitanos einen festen Wohn­sitz. Im Zuge der ökonomischen Entwicklung Nordspaniens kam es in den 1960er-Jahren zu einer starken Binnenmigration. Aus dem wirtschaftlich schwachen Süden suchten immer mehr Spa­nier in den nördlichen Regionen wie Katalonien und dem Baskenland bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, viele Roma kamen nach Barcelona.

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Die neu Hinzugezogenen lebten in Barackenvierteln wie Somorrostro, die mit der enormen Zuwanderung zu eigenen »informellen Städten« der Migranten wurden. In dieser Zeit entstand auch San Roque, ein Stadtteil der katalanischen Industriestadt Badalona, nordöstlich von Barcelona; die natürliche Grenze des Río Besós trennt die zwei katalanischen Städte von­einander. In San Roque sind 30 Prozent der Bevölkerung gitanos, die in den 1950er-, 1960er-Jahren, noch zu General Francos Zeiten, aus verschiedenen Vierteln Barcelonas sowie aus dem Süden Spaniens umgesiedelt wurden.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gelten die spanischen Roma als eine der am besten integrierten Roma-Gruppen innerhalb Europas. Auch wenn mittlerweile ein Teil der Jugend durch besseren Zugang zu Bildung einen gewissen sozialen Aufstieg geschafft hat und versucht, das Familienmodell der Eltern mit einem moderneren Lebensstil zu verbinden, sieht die Realität eines Großteils der Jugend anders aus: Soziale Barrieren, Diskriminierung, Rassismus und Vorurteile gegenüber ihrer Ethnie sind in der spanischen und katalanischen Gesellschaft immer noch weitverbreitet. Teilhabe und Chancengleichheit werden dadurch behindert.

Traditionen und Wertvorstellungen passen sich zwar dem sozialen Wandel immer weiter an, dennoch unterscheiden sich die gitanos kulturell von den Nicht-Roma, den sogenannten payos, und der katalanischen Gesellschaft deutlich. Institutionen wie Familie und die herkömmliche Eheschließung, meist innerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, bleiben von fundamentaler Bedeutung. Die Wertschätzung von Familie und Verwandtschaft über die Kernfamilie hinaus sowie der Respekt vor den Älteren sind wichtige Merkmale der Gemeinschaft. Viele junge Roma folgen dem Familienmodell ihrer Eltern, und so heiraten sie jung. Die Stellung der Frau ist auch heute noch stark durch die patriarchale Gesellschaftsform bestimmt.

Viele Eltern wünschen ihren Kindern eine bessere Zukunft, sehen aber kaum Möglichkeiten für einen Ausweg aus den vorgefertigten Strukturen

Die frühe Familienbildung beeinflusst auch die Bildungschancen der jungen Roma enorm. Auch wenn sich viele Eltern eine bessere Zukunft für ihre Kinder wünschen, sehen die meisten kaum Möglichkeiten für einen Ausweg aus den vorgefertigten Strukturen. Sowohl externe Faktoren (zum Beispiel die ethnische Stigmatisierung, die mangelhafte Bildungspolitik und die wirtschaftliche Notlage Spaniens) als auch das interne patriarchale System unterstützen diese Entwicklung. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer schwierigen Lebensumstände sind diese Kinder und Jugendlichen erstaunlich reif und gefestigt. Hinzu kommt ein sich kontinuierlich besser entwickelndes Selbstbewusstsein. Beides zieht eine – langsame – Veränderung der kommenden Generationen nach sich. Zwischen althergebrachten, männlich dominierten Strukturen sowie kultureller und sozialer Globalisierung bleibt die größte Herausforderung: die Suche nach Anerkennung, nach persönlicher und kollektiver Identität. stop

Lena Mucha studierte Ethnologie, Politikwissenschaft sowie iberische und lateinamerikanische Geschichte. Geboren 1983 in Deutschland, verbrachte sie ab 2002 mehrere Jahre in Lateinamerika, wo sie für verschiedene NGOs tätig war, zum Beispiel bei der Aufarbeitung des guatemaltekischen Bürgerkriegs oder im kolumbianischen bewaffneten Konflikt. Ihr Langzeitprojekt über junge spanische Roma verfolgt sie seit 2014. Lena Mucha lebt zurzeit in Berlin

www.lenamucha.com

Diese Story erschien erstmals in emerge 01 – Migration

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Format: 23,5 x 31cm
Seiten: 120
Abbildungen: 107
Sprache: Deutsch
Auflage: 1000
Erscheinungsdatum: 2015
Druckverfahren: Offset-Druck
Bindung: Fadenbindung
Papier: Luxoart Samt 135g/m²
ISSN: 2364-6713
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