Stella Meyer und Sarah Schneider

Yo bebo leche y agua

Wasser ist in Chile nahezu vollständig privatisiert – mit drastischen Folgen für Gesellschaft und Umwelt. In einem Dorf im Norden Patagoniens wird der Konflikt um Wasser deutlich sichtbar.
© Fabian Niebauer

Stella Meyer und Sarah Schneider

*Informationen zum Beitragsbild: „Wasser als Ware – Gletscherwasser aus Chile wird von Wasserabfüllern teilweise als exklusives Luxusprodukt verkauft. Dieses Bild ist inszeniert. Puerto Guadal, Januar 2024“

Die Zeile „Yo bebo leche y agua“ [Ich trinke Milch und Wasser] kommt aus einem Gedicht von Gabriela Mistral, eine chilenische Dichterin, Diplomatin und Nobelpreisträgerin für Literatur. „Für Neugeborene ist Milch lebensnotwendig und es ist selbstverständlich, dass sie sie bekommen. Wasser ist ebenso lebensnotwendig, aber dessen Zugang ist in Chile durch die Wasserprivatisierung nicht selbstverständlich.“ erklären die Fotografinnen Stella Meyer und Sarah Schneider.

Das Dorf Puerto Guadal liegt im Norden Patagoniens, am Ufer des zweitgrößten Sees Südamerikas. Oberhalb des Ortes fließt der Río Los Maquis und speist auf seinem Weg natürliche Becken und Wasserfälle. In der Ferne sind schneebedeckte Berge und Gletscher zu sehen. Gleichzeitig wird vielen Guadalinos der Zugang zu Wasser erschwert. Denn trotz – oder gerade wegen der offensichtlichen Wasserfülle in der Region Aysén gibt es hier Konflikte um die Ressource.

„Wir versuchen alles, um den Fluss zu schützen.“

Cristobal Weber McKay und Franny Parkinson,
Gründer und Gründerin der Umweltbewegung „Los Maquis Libres“

Wasser ist in Chile nahezu vollständig privatisiert. Unter der Pinochet-Diktatur hatte eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die unter dem Namen „Chicago Boys“ bekannt wurden, großen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik des Landes. Chile erlebte dadurch ab den späten 1970er Jahren eine Welle von Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. In diesem Zuge wurde im Jahr 1981 auch das chilenische Wassergesetz „Código de Aguas“ eingeführt, das bis heute in der Verfassung festgeschrieben ist. Auch wenn Wasser als Eigentum der Nation anerkannt wird, schützt das Gesetz das Privatbesitzrecht auf Wasser. Es versetzte den Staat in die Lage, dauerhafte und frei handelbare Wassernutzungsrechte an Privatpersonen und Unternehmen zu vergeben. Damit entstand ein Markt für Wasserrechte in Chile, Wasser wurde zu einer Handelsware.

Archivbild der Chicago Boys aus der Nationalbibliothek der Republik Chile. Cyanotypie mit Gletscherwasser. Unter dem Einfluss der "Chicago Boys" erlebte Chile ab späten 1970er Jahren eine Welle von Privatisierungen, Deregulierungen und Liberalisierungen. Februar 2024

Durch die Kommerzialisierung der riesigen Wasservorkommen in Chile ist der Markt immer weiter gewachsen und hat zu einer Akkumulation von Wasserrechten in den Händen weniger mächtiger Großkonzerne geführt. Allein der stark exportorientierte Agrarsektor verbraucht heute mehr als drei Viertel des verfügbaren Wassers in Chile. Die ökologischen und sozialen Folgen der Privatisierung sind gravierend. Durch die Übernutzung der Ressource, etwa durch die Landwirtschaft, trocknen ganze Regionen und Seen in Nord- und Zentral-Chile aus. Doch auch wasserreiche Regionen, wie etwa Aysén, leiden unter Trockenstress, was bedeutet, dass mehr Wasser entnommen wird als natürlich nachfließen kann. Langfristig werden auch die großen Wasserreserven den steigenden Bedarf nicht decken. Gleichzeitig ist bezahlbares Wasser oft kaum verfügbar, etwa die Hälfte der Privathaushalte und Kleinbäuer*innen auf dem Land hat keinen gesicherten Zugang zu Trinkwasser.

„Ich träume davon, dass unsere Gewässer zu ihrem Ursprung zurückkehren, dass unsere Flüsse ihren alten Lauf und ihre frühere Kraft wiedererlangen.“

Pedro Esteban Rivas Flores

Bewohner*innen von Puerto Guadal vor dem Wahlbüro in der Dorfschule. Am 17. Dezember 2023 stimmte in einem zweiten Referendum die Mehrheit der Chilen*innen gegen eine neue Verfassung, welche auch das Wassergesetz verändert hätte.

In Puerto Guadal wird die Versorgung von einem Trinkwasserkomitee geregelt, das Wasserrechte an einem einzelnen Punkt im See erworben hat. Das Wasser erreicht jedoch nur die Menschen im Zentrum des Dorfes. Die Mehrheit der Guadalinos, deren Haupteinnahmequelle Tourismus und Landwirtschaft ausmacht, lebt jedoch außerhalb des Dorfkerns und weiter oberhalb des Sees. Für sie ist die Versorgung technisch teilweise nicht umsetzbar. Immerhin bemüht sich das Komitee um weitere Rechte am Los Maquis, um auch die höher gelegenen Grundstücke mit Wasser zu versorgen. Der notwendige bürokratische Aufwand zum Erwerb von Wasserrechten von der staatlichen Dirección General de Aguas (DGA) einerseits und der Errichtung und eigenständigen Finanzierung von Pumpen und Wasserleitungen andererseits ist jedoch ein zeit- wie kostenintensiver und daher andauernder Prozess.

„Man kann nicht sehen, fühlen oder schmecken, ob Wasser privatisiert wurde. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, das Thema am Beispiel von Puerto Guadal sichtbar zu machen.“

Stella Meyer und Sarah Schneider

Im Sommer kommen die Menschen in Patagonien häufig zu sogenannten "Asados" zusammen, dem traditionellen Grillen. Puerto Guadal, Februar 2023

Eine große Wassermenge des Los Maquis kontrolliert hingegen das Energieunternehmen Edelaysén. Der rauschende Fluss soll regenerativen Strom erzeugen, dafür hat Edelaysén mit der Rodung von Bäumen, dem Bau eines Kraftwerks und großer Wasserleitungen begonnen – ohne Umweltverträglichkeitsprüfungen. Die Natur rund um das Flussbett ist dadurch schon jetzt erheblich geschädigt. Zudem liegt das Projekt in einer designierten Zone von touristischem Interesse (Zonas de Interés Tourístico, ZOIT) und bedroht den ökonomischen aber auch soziokulturellen Wert der natürlichen Wasserfälle als ausgewiesenes Naherholungsgebiet.

„Ich habe Angst vor der Zukunft. Zu wissen, dass es eines Tages nicht mehr genug Wasser für uns geben wird.“

Diego Martin

Das Bauvorhaben stieß bei vielen auf Ablehnung, nicht zuletzt weil die meisten Bewohner*innen von Puerto Guadal von der Landwirtschaft und dem Tourismus leben. Unter dem Namen „Los Maquis Libres“ organisierten sie sich und wehren sich seitdem gegen die Pläne von Edelaysén. Die Organisation möchte den Fluss in seiner natürlichen Form erhalten und prangert an, dass ein Konzern mithilfe seiner Wasserrechte staatliche Umweltgesetze und lokale Gegebenheiten einfach ignorieren kann. Ein Streit, der stellvertretend für eine Vielzahl von Konflikten um Wasser in Chile steht.

Die Investmentfirma Asesorías e Inversiones Diez y Berliner Limitada könnte mit ihrem Wasserbesitz am Río Pascua 469 Jahre lang die gesamte Weltbevölkerung mit der Mindestmenge an Wasser versorgen. Und das jedes Jahr aufs Neue. Comuna Tortel, Januar 2024

Für eine kurze Zeit schien die Auseinandersetzung um Wasser sowohl in Puerto Guadal als auch in Chile eine Wendung zu nehmen: 2021 konnten die Aktivist*innen im nordpatagonischen Dorf den Kraftwerkbau durch Edelaysén wegen zu prüfender Umweltstandards vorerst stoppen. Allerdings nahm der staatliche Druck auf die Mitglieder von „Los Maquis Libres“ zu, der in einem Verbot öffentlicher Äußerungen gipfelte. Aus Sorge um ihre Arbeitsplätze zogen sich viele Mitglieder aus der Organisation zurück.

Im Jahr 2022 stand, nach jahrelangen und landesweiten Protesten, ein Referendum über eine neue Verfassung in Chile zweifach zur Abstimmung. Die Änderungen hätten auch das Wassergesetz von 1981 maßgeblich überarbeitet. Im September 2022 lehnte jedoch eine Mehrheit von 62% der Chilen*innen die Verfassungsänderung ab, eine weitere Abstimmung im Dezember kam zu einem ähnlichen Ergebnis.

In den vergangenen Jahren hat die chilenische Regierung immerhin Reformen angestoßen, die den „Código de Aguas“ modifizieren. Bei der Vergabe von Wasserrechten sollen die Nutzung durch Menschen und die ökologische Nachhaltigkeit stärker gewichtet werden. Diese Reformen sind erste Schritte, sie gelten allerdings nur für neue Wasserrechte. Ein Großteil des Wassers im Land wird weiterhin von privaten Unternehmen kontrolliert, hier bestimmt der Markt die Bedingungen, die häufig nicht den Bedürfnissen von Menschen und Umwelt gerecht werden.

Noch ist unklar, wie es mit dem Konflikt um Wasser in Chile weitergeht. Stella Meyer und Sarah Schneider werden das Thema auch in Zukunft begleiten. Aktuell arbeiten sie gemeinsam mit der NGO Corporación Privada para el Desarrollo de la Región Aysén (CODESA) und dem chilenischen Verlag FLUQ an einem Fotobuch, wofür sie kürzlich eine Förderzusage des chilenischen Nationalfonds für kulturelle Entwicklung und Kunst erhielten. Mit ihrer fotografischen Arbeit, geplanten Buchpräsentationen und Cyanotypie-Workshops insbesondere in der Region Aysén tragen sie zu einem Diskurs um Wassergerechtigkeit und -bewusstsein bei.

Stella Meyer (*1997 in Salzburg, Österreich) und Sarah Schneider (*1996 in Voralberg, Österreich) studieren seit 2020 Visual Journalism and Documentary Photography an der Hochschule Hannover. Schwerpunkte ihrer Arbeiten liegen auf marginalisierten Gruppen, psychischer Gesundheit und der Beziehung zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur. Stella und Sarah arbeiten an individuellen Projekten sowie als Fotografinnen-Duo. Sie leben und arbeiten vorrangig in Wien und Chile.

Print aus der Arbeit „Yo bebo leche y agua“ von Stella Meyer und Sarah Schneider

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