„‚Es ist Zeit darüber nachzudenken, ob die deutsche Vergangenheitsbewältigung so erfolgreich war, wie es sich die deutsche Gesellschaft gerne selbst attestiert‘ schreibt der Historiker Jürgen Zimmerer im Vorwort zu seinem Buch über Erinnerungskämpfe. Kämpfe, die derzeit an vielen Schauplätzen ausgefochten werden. Vor allem jedoch mit Blick auf die koloniale Vergangenheit Deutschlands, die viel zu lange viel zu wenig Platz im kollektiven Gedächtnis Europas und Deutschlands fand. Lüderitz ist einer dieser Schauplätze.“ Lucia Halder
Tim Gassauer
Lüderitz
Rund 12.000 Kilometer trennen das Dorf Lüderitz im Norden Sachsen-Anhalts von der gleichnamigen Hafenstadt im Süden Namibias. Tim Gassauer hat an beiden Orten fotografiert, deren gemeinsamer Name einen Blick auf die deutsche Kolonialzeit eröffnet.
Fotografie Tim Gassauer
Als Stammsitz der Familie von Lüderitz wird ein Dorf in der Altmark, im Norden Sachsen-Anhalts, seit über sechs Jahrhunderten unter dem Namen „Lüderitz“ aufgeführt. Im Jahr 1834 ging aus derselben Familie ein gewisser Adolf Lüderitz hervor. Der Bremer Kaufmann und Tabakhändler hatte bereits einige, weitestgehend erfolglose Auslandsexpeditionen hinter sich. Ende des 19. Jahrhunderts machte sich Adolf Lüderitz zur Aufgabe, auf dem afrikanischen Kontinent ein Stück Land zu finden, welches er dem Deutschen Reich als Kolonie andienen konnte.
Fündig wurde Adolf Lüderitz an einem Küstenstreifen des heutigen Namibias, welches er 1883 von den !Aman, einer Namagemeinschaft aus Bethanien, „erwarb“. Im Kaufvertrag täuschte Adolf Lüderitz und sein Unterhändler Heinrich Vogelsang die !Aman jedoch vorsätzlich: sie verzeichneten die Breite des Küstenstreifens, statt mit der lokal üblichen englischen Meile, mit der fast fünfmal so langen geografischen Meile. Alle späteren Proteste der !Aman, die nach der Entdeckung des später als „Meilenschwindel“ bekannt gewordenen Betrugs folgten, blieben wirkungslos. Mit derselben Vorgehensweise „kaufte“ Lüderitz andere Küstenstreifen weiter nördlich von anderen unabhängigen Namagruppierungen. Gleichzeitig betrieb er erfolgreiche Lobbyarbeit, um den noch zögernden Reichskanzler Bismarck dazu zu bringen, seine Erwerbungen in Südwestafrika unter „deutschen Schutz“ zu stellen. Damit begründete er die erste Kolonie des Deutschen Reichs.
Als Adolf Lüderitz 1886 auf der Suche nach Diamantenvorkommen spurlos verschwand, erhielt die bis dato noch unbedeutende Hafensiedlung an besagtem Küstenstreifen ihm zu Ehren den Namen „Lüderitzbucht“, später „Lüderitz“. Die bis 1915 anhaltende Kolonialzeit war geprägt von materieller wie menschlicher Ausbeutung. Ihren grausamen Höhepunkt fand sie im Völkermord an den OvaHerero und Nama. Auf Anweisung des Oberbefehlshabers Lothar von Trotha führte das Deutsche Reich ab 1904 einen erbitterten Vernichtungskrieg gegen die widerständigen Volksgruppen. Neben massiven militärischen Angriffen wurden bereits zu diesem Zeitpunkt sogenannte Konzentrationslager errichtet, eines davon auf der Haifischinsel vor Lüderitz.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die ehemalige deutsche Kolonie von südafrikanischen Truppen besetzt. Der Ort Lüderitz verlor in den Jahrzehnten darauf an Bedeutung. Erst 1990 erlangte Namibia seine Unabhängigkeit von Südafrika und Lüderitz, das sogar zeitweise das Stadtrecht verloren hatte, erlebte eine Neubelebung. Der Hafen wurde ausgebaut und eine neu entstandene Fabrik für Fischverarbeitung ist mittlerweile größter Arbeitgeber des Ortes. Die Bahnverbindung wurde rehabilitiert, ein Meereskundemuseum gegründet, eine Windfarm gebbaut und es gibt erste Pläne für die Erzeugung von „Grünem Wasserstoff“.
Auch die prunkvollen, aus der Zeit des Diamantenabbaus stammenden, Kolonialbauten in Lüderitz blieben erhalten und zeugen von der historischen Verbindung Deutschlands und Namibias. Den daraus entstehenden Verantwortlichkeiten nach Reparationen und Erinnerungsarbeit entzog man sich auf deutscher Seite über ein Jahrhundert weitestgehend. Erst in der jüngeren Vergangenheit scheinen sich die Verhältnisse zu ändern, was in erster Linie dem Engagement von Nachfahren-Verbänden und zivilgesellschaftlichem Aktivismus zu verdanken ist.
Die beiden Orte Lüderitz sind in dieser Arbeit visueller Schauplatz von Aushandlungen der Vergangenheit. Ausschnitthafte, verdichtete Aufnahmen von Landschaften, Architektur und Porträts werden mit Archivbildern kombiniert. Das Aufeinandertreffen von altmärkischen Dorfszenen und Kolonialbauten zwischen kargen Felsformationen geben Anlass, Zusammenhänge und Überlagerungen in den Blick zu nehmen, um Wechselwirkungen zwischen deutschen Heimatvorstellungen und der gewaltvollen Kolonialzeit Namibias neu zu verhandeln. Entsprechend bestehen die Bildpaare aus Fotos, die jeweils in Namibia und Deutschland entstanden sind. Die Arbeit „Lüderitz“ ist ein erinnerungspolitischer Impuls, einen Diskurs über die kolonialen Verhältnisse und Verbrechen sowie deren Kontinuitäten bis in die Gegenwart zu führen.
Tim Gassauer (*1997) hat einen Bachelorabschluss in Kommunikations- und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Anschließend studierte er Fotografie an der Ostkreuzschule für Fotografie in der Klasse von Göran Gnaudschun. Das Studium schloss er 2024 mit der Arbeit „Lüderitz“ ab. Tim beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit Fragen nach Zugehörigkeit und Erinnerung. Er lebt und arbeitet als Fotograf in Berlin.
Die Texte in dieser Arbeit stammen von Tim Gassauer, Lucia Halder und Werner Hillebrecht und wurden zu Teilen aus dem Buch „Lüderitz“ von Tim Gassauer übernommen.
Print aus der Arbeit „Lüderitz“ von Tim Gassauer
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