Die Fotografin Lea Greub begleitete über ein halbes Jahr Künstler:innen, Aktivist:innen und junge Kreative, die nicht in das traditionelle, rückwärtsgewandte System passen und im Konflikt mit der ultrakonservativen pro-russischen Regierung stehen. Sie stellte die Frage nach ihren Zukunftsvorstellungen und zeigt die gegenwärtige Lebensrealität dieser jungen Menschen in Georgien.
Lea Greub
No Georgian Dream
Auch mehr als drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit Georgiens hallt das sowjetische Erbe in der Gesellschaft nach. Eine pro-russische Regierung steht einer europazugewandten Jugend entgegen, deren Hoffnung auf Demokratie wankt.
Fotografie und Text Lea Greub
Georgien liegt am Schwarzen Meer, seine Nachbarstaaten sind Russland, Armenien, Aserbaidschan und die Türkei. Das kleine Land am Kaukasus wurde in seiner Geschichte immer wieder überrannt und fremdbestimmt. Verschiedene Völker und Fürsten versuchten im Laufe der Jahrhunderte, das Gebiet des heutigen Georgiens zu erobern oder zumindest ihre Einflusssphäre darauf auszudehnen. Bis zum 19. Jahrhundert erhoben sowohl Araber als auch Osmanen Anspruch auf das Gebiet. Damals suchte Georgien Verbündete gegen die Osmanen und wandte sich an das russische Zarenreich. Infolgedessen geriet das Land in eine Abhängigkeit Russlands, die bis heute anhält.
Vielen ist Georgien lediglich als „post-sowjetisches Land“ bekannt. Vor Ort wird dieser Begriff als beleidigende Marginalisierung empfunden, weil das Land mit einer jahrtausendealten Geschichte damit auf einen kurzen Zeitabschnitt reduziert wird, in dem ihm die imperialistischen Bestrebungen der UdSSR aufgezwungen wurden. Im März 2022 stellte Georgien einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Am 8. November 2023 wurde ihm durch die europäische Kommission der EU-Beitrittskandidaten-Status gewährt. Die EU sehen viele als Garant für eine demokratische Zukunft des Landes. Trotz allem versucht die pro-russische Regierung weiterhin, die Fortschritte dieses Prozesses zu blockieren.
„The Soviet Union was so deeply ingrained in the older generations psyche that it has become a psychological problem for them. They can not dream big or strive for more. They‘re stuck here and always hope that someone else will change things for them. They don‘t trust in their own strength.“ David Kelber
„In den 1990er Jahren herrschte bei uns noch Steinzeit“, scherzt der Aktivist und Künstler David Apakidze. Die westeuropäischen Länder scheinen den ehemaligen Sowjetstaaten immer um Jahrzehnte voraus zu sein. Es ist, als ob der Osten zu einer ewigen Aufholjagd verdammt ist. Geht es um Wohlstand, Demokratie, Infrastruktur, Gleichberechtigung und Bildung, scheint es in Ländern wie Georgien, Rumänien und der Ukraine langsamer voranzugehen als im Westen Europas. Zurückzuführen ist dies unter anderem auf den Zusammenfall der Sowjetunion – eine Stunde Null für die mittlerweile unabhängigen Staaten. Wirtschaftliche und politische Systeme mussten sich neu entwickeln. „Ein weiterer Grund, warum Georgien immer 15 Jahre hinter westeuropäischen Ländern liegt, ist das Trauma der Menschen, die in der Sowjetunion gelebt haben. Sie haben Angst zu protestieren oder ihre Meinung auszusprechen.“
Nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs im Frühjahr 2022 herrschte Einigkeit bei Politiker:innen und Pressevertreter:innen. „[…] Wir haben Putin alle unterschätzt“, heißt es beispielsweise in der SZ. Der Kreml hatte zu lange freie Hand und konnte ungestört seine autokratischen Ambitionen verfolgen, während die westlichen Staaten dazu tedierten, seine Politik zu verharmlosen. Spätestens nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014 hätte sich der Umgang mit Russland ändern müssen. Auch der Kaukasuskonflikt im Jahr 2008 fand international kaum Beachtung und verlor schnell an medialer Aufmerksamkeit. Wenig bekannt ist unter anderem, dass nach wie vor ein Fünftel der international anerkannten Fläche Georgiens von Russland besetzt ist und russische Truppen auf georgischem Territorium stationiert sind. Viele Georgier:innen sind besorgt über den immer größer werdenden Einfluss Russlands auf ihr Land und fürchten, dass sie ihrem imperialistischen Nachbarn als nächstes zum Opfer fallen könnten. Von der weitsichtigen Politik der westlichen Staaten, die nach dem Einmarsch in die Ukraine gefordert wurde, ist aktuell in Georgien nichts zu sehen. Es wäre jedoch an der Zeit, zu intervenieren und die Warnungen und Ängste der Betroffenen diesmal frühzeitig wahrzunehmen.
„When I was growing up, it felt like my country, my town, and the rest of the world were divided into two separate entities. It was as if we lived on another planet. I knew I would never see my town or surroundings in movies, or encounter movie stars or pop stars in my daily life. I knew I would never hear my language being spoken somewhere else. It was as if we were aliens.“ George Kartozia
Laut David Apakidze, Künstler und Verfechter von Rechten der LGBTQ-Gemeinschaft, können Regime, welche Gewalt, Repression und Angst als Mittel zur Kontrolle einsetzen, tiefgreifende Folgen für die betroffene, nach Freiheit und Selbstverwirklichung strebende, Gesellschaft haben. „Viele, die in der UdSSR aufgewachsen sind, können nicht von einer besseren Zukunft träumen. Sie sind zu belastet von der Vergangenheit und zu beschäftigt mit existenziellen Problemen, die in diesem Land so viele betreffen.“ Doch Träume und Zukunftsvorstellungen sind wichtige Indikatoren für die zukünftige Entwicklung eines Landes. Sie zeigen die Sehnsüchte und Hoffnungen der Gesellschaft und bieten einen Einblick in ihre Wertvorstellungen und Prioritäten. Diese Träume und Visionen können dann wiederum politische und gesellschaftliche Veränderungen auslösen, da die Menschen ihr Bestreben danach ausrichten, ihre Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Apakidze ist nicht hoffnungslos: „Die junge Generation ist anders. Wir sind furchtloser. Diese Generation hat den Willen, alles zu verändern.“
Lea Greub (*1998) arbeitet als freie Fotojournalistin in Berlin und NRW. 2023 schloss sie den Bachelorstudiengang Mediendesign in Münster ab, seit 2024 studiert sie an der Ostkreuzschule für Fotografie, in der Klasse von Irina Ruppert. Ihre multimedialen Arbeiten und Reportagen widmen sich gesellschaftspolitischen Konflikten, insbesondere in Grenzregionen. Sie beleuchten etwa die Diskriminierung von Minderheiten und die Schicksale von Betroffenen im gesellschaftlichen Kontext. Seit 2024 wird Lea von der Agentur Focus repräsentiert.
„No Georgian Dream“ ist ein multimediales Projekt. Hier gibt es die entsprechenden Videos.
Die Texte dieses Beitrags wurden von der emerge Redaktion zu Teilen aus dem Buch „No Georgian Dream“ von Lea Greub übernommen, das im Rahmen ihrer Abschlussarbeit an der FH Münster realisiert wurde.
Print aus der Arbeit „No Georgian Dream“ von Lea Greub
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