Die Geschichte der DDR ist auch heute noch nicht auserzählt. Etwas, das in vielen Berichten ausgelassen wird, ist die Geschichte der temporär angeworbenen Vertragsarbeiter*innen aus anderen sozialistischen Staaten. Wie kam es dazu, dass diese Arbeitskräfte nur einen geschlossenen Zeitraum im ehemaligen Ostdeutschland verbrachten und ihre hinterlassenen Kinder zum Teil heute noch auf der Suche nach ihrem Elternteil sind?
Alina Simmelbauer
Garcías Tochter
Vertragsarbeiter*innen wurden in der DDR über sozialistische Bruderstaaten temporär angeworben. Was blieb, sind ihre Kinder.
Fotografie Alina Simmelbauer
Interview Verena Meyer
Ab Ende der 1960er Jahre migrierten zahlreiche junge Menschen aus Bruderstaaten, wie Algerien, Mosambik, Kuba und Vietnam in die DDR. Dort konnten sie ein Studium, eine Ausbildung oder eine Arbeitsstelle annehmen. Das sollte den Arbeitskräftemangel vor Ort eindämmen und in den Ursprungsländern zukünftige Fachkräfte für den Aufbau von deren Wirtschaft ausbilden. Bleiben konnten die Migrant*innen so lange, wie ihr Arbeitsvertrag galt. Frühzeitig beendet oder auch verlängert werden konnte der Aufenthalt nicht. Die Integration der Arbeiter*innen wurde kaum unterstützt, sie wurden Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt.
„Ich war dreißig Jahre alt. Erst dann habe ich mich getraut, auf die Suche zu gehen.“
Die Fotografin Alina Simmelbauer ist selbst Kind eines ehemaligen Vertragsarbeiters. Sie ging real und visuell auf die Suche nach dem „wieso und warum“ diese Geschichte in Vergessenheit geraten ist. Das dabei entstandene Fotoprojekt „Garcías Tochter“ ist eine Reise zurück zu dieser verschwiegenen Historie, bis hin zu den Auswirkungen auf das Heute. Neben nostalgischem Bildmaterial der Vertragsarbeiter*innen in der DDR, führt sie uns zwischen fragmentarischen fotografischen Einblicken aus Stadtarchiven hin zu Porträts der ehemaligen Kinder, die heute nach diesen Elternteilen suchen oder bei denen auch die Suche ausbleibt. Der rote Faden der Fotoarbeit ist die assoziative und konkrete Erzählung von Alinas eigener Geschichte, die dabei für unzählige, oft noch ungelöste Familienbeziehungen dieser Art steht.
Im Interview mit emerge gibt sie Einblicke in ihre persönliche Geschichte. Wie sie sich erst nicht traute auf die Suche nach ihrem Vater zu gehen, dann jedoch von kubanischer Herzlichkeit empfangen wurde. Sie erzählt, wie schwierig es ist, heute erwachsene Vertragsarbeiterkinder zu finden und wie sie es doch immer wieder schaffte.
emerge: Du bist selbst Vertragsarbeiterkind. Wie lange hat dein Vater in Deutschland gearbeitet?
Alina Simmelbauer: Mein Vater war vier Jahre in Deutschland. Er hat sein Studium zum Elektroingenieur absolviert und war auch in diesem Feld tätig. Als sein Vertrag endete, musste er zurück. Zu diesem Zeitpunkt war ich zwei Jahre alt. Daran kann ich mich natürlich nicht bewusst erinnern.
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Wie wurde in deiner Familie damit umgegangen, dass dein Vater wieder zurück musste?
Innerhalb unserer Familie wurde aus dem Ganzen kein Geheimnis gemacht. Ich wusste, dass mein Vater auf Kuba ist, es war sogar die Hoffnung da, dass man ihn besuchen kann. Ich glaube auch, dass mein Vater dachte, dass er wiederkommen kann. Einmal fragte ich meine Oma, wie mein Vater war und sie sagte: „Er ist wie Prince“.
Er sieht also so aus wie der Musiker Prince?
Für meine Oma anscheinend ja (lacht). Was die Aussage für sie genau bedeutet, wurde mir nicht erklärt. Dieses Bild hatte ich aber dadurch lange im Kopf.
Wie hast du deine spätere Kindheit erlebt?
In der Schule wurde über das Thema insgesamt nicht geredet. Dass andere Kinder auch einen Elternteil haben, der nicht in Deutschland geboren wurde, darüber wurde nicht gesprochen. Mit meiner Situation war ich also allein. Zuhause wurde mir gesagt, dass ich es nicht erzählen soll. Heute verstehe ich, dass das eine Vorsichtsmaßnahme war, damit ich keine Stigmatisierung erfahren muss. Weil man mir aus europäischer Sicht das südländische Aussehen nicht ansieht und ich keinen Bezug zu der kubanischen Kultur hatte, war es für mich aber auch selbst schwierig, mich mit meinen Wurzeln zu identifizieren.
Verstehe ich. Hattest du Kontakt zu deinem Vater?
Nein, der ist komplett abgebrochen. Deshalb dachte ich, er hätte mich verlassen. Ich habe das nicht verstanden, warum er mir nicht schreibt. Mein Vater erzählte mir später, er hätte mir Briefe geschrieben.
Wurde das durch die Staatssicherheit verhindert?
Das kann man nur mutmaßen. Man versucht jedoch schnell, die DDR als Sündenbock hinzustellen, aber diese Verträge wurden zwischen den Ländern geschlossen. Das lässt sich am Beispiel Vietnam ganz drastisch sehen: Das Land formulierte ein Gesetz, dass eine schwangere Vertragsarbeiterin direkt abtreiben muss. Ich habe eine Halbvietnamesin getroffen, deren Mutter hochschwanger war. Ihr vietnamesischer Vater wurde von heute auf morgen abgezogen, sie konnten sich nicht mal verabschieden.
Schrecklich. Wie alt warst du, als du dich auf die Suche nach deinem Vater begeben hast?
Ich war dreißig Jahre alt. Erst dann habe ich mich getraut, auf die Suche zu gehen. Ich wusste immer, dass meine erste große Reise nach Kuba gehen wird. Trotzdem war die Unsicherheit da, nicht zu wissen, auf was man stoßen wird: Ob man erwünscht ist, ob man vergessen wurde, ob der Vater überhaupt noch lebt. Es ergab sich, dass meine Hochschule eine Kooperation mit der Kunstakademie in Havanna hat. Ich habe also das Studium mit der Reise verbunden, das gab mir eine Art Ankerpunkt. Dabei ging ich nicht nur auf die Suche nach meinem kubanischen Vater, sondern auch nach den kubanischen Anteilen in mir. Interessant war, dass ich ziemlich viele dieser Anteile habe.
Zum Beispiel?
Zu meinem Erstaunen sehen wir uns sehr ähnlich. Wir haben beide blaue Augen und eine ähnliche Physiognomie. Was mir aufgefallen ist, ist dass unsere Gestik und Mimik sehr analog sind. Und wir fotografieren beide sehr gerne (lacht). Auch meinen Humor habe ich in meinem Vater wiederentdeckt. Weil ich aber erst drei Mal da war, ist meine Suche nach diesen vergleichbaren Anteilen auch noch nicht beendet.
Noch mal zurück: Wie war es für dich, als du in Kuba ankamst?
Es hat drei Wochen gedauert, bis ich mich überwinden konnte, loszugehen. Mit einer alten Adresse, die auf einem Brief stand, bin ich dann losgezogen. Ich dachte, ich müsste lange von Haus zu Haus gehen, weil mein Vater dort nicht mehr wohnen würde. Jedoch hatte ich Glück, ich fand ihn bei der alten Adresse. Die Familie hat mich direkt sehr herzlich aufgenommen. Meine Oma ist in Tränen ausgebrochen. Mein Vater ist gleich zu einem Schrank gegangen, hat die Geburtsurkunde und Kinderbilder rausgeholt. Das war ein interessanter Moment, denn ich hatte dieselben Bilder dabei, die er mir zeigte. Was mir nicht bewusst war: Er hatte diese Bilder damals selbst fotografiert. Dadurch wurde mir noch mal vor Augen geführt, wie viel Zeit wir eigentlich zusammen hatten. Und dass ich kein Geheimnis vor seiner Familie war.
Redest du mit deinem Vater auch viel über die Zeit der Vertragsarbeit?
Eine Herausforderung ist dabei, dass ich neben dem Erleben des Wiedersehens gleichzeitig auch fotografiere. Es entsteht alles immer aus dem Moment heraus, so passiert es manchmal, dass ich Fragen nicht stelle, die ich eigentlich im Kopf hatte. Aber ich habe schon einige Dinge erfahren, auch Positives, das er in der DDR erlebt hat. Für ihn bleibt zum Beispiel sehr präsent wie herzlich meine Oma ihn in die Familie integriert hat. Auch das Reisen war für ihn eine neue Freiheit, die er in Kuba so nicht kannte. Er hatte sich ein Motorrad gekauft und ist quer durch den Ostblock gefahren. Sehr typisch, aber auch eine Eigenschaft, die er für sich mitgenommen hat, ist Pünktlichkeit. Er hat aber auch von rassistischen Anfeindungen erzählt, zum Beispiel dass er in Lokale nicht reingelassen wurde.
Wie ging es dir denn nach der Reise?
Ich war vollgesogen wie drei Schwämme und damit auch sehr überfordert. Ich wusste selbst nicht, wie es mir geht, weil die Reise alle meine Erwartungen übertroffen hat. Wie sollte ich also meinen Freund*innen und meiner Familie davon erzählen? Es hat sich irgendwie sehr surreal angefühlt wie ein intensiver Kinofilm, den ich mir angeschaut habe.
Wie kam es dann zu deinem Fotoprojekt?
Ursprünglich wollte ich meine eigene Suche fotografisch zum Thema machen. Während meiner Reise auf Kuba lernte ich jedoch einen ehemaligen Vertragsarbeiter kennen, der nicht wusste, wo sein Kind heute ist. Ein Grund dafür ist unter anderem, dass sich die Straßen- und teilweise auch Städtenamen von der DDR hin zum wiedervereinigten Deutschland geändert haben. Dieser Vater erzählte mir, dass er in Karl-Marx-Stadt ein Kind hat. Er wusste nicht, dass das heute Chemnitz heißt. In einem anderen Fall hat die Mutter der Kinder Erinnerungsstücke verbrannt, um selbst mit der Geschichte abzuschließen. Es waren also keine Anhaltspunkte mehr da. Mein Impuls war es deshalb diese ungelöste Geschichte der Vertragsarbeiter und ihrer Kinder zu zeigen.
Die Vertragsarbeiterkinder
Alina hat über 20 Nachfahren von ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in den letzten Jahren getroffen. Die heute erwachsenen Kinder ließen sie an ihren Geschichten teilhaben. Viele der Suchgeschichten ähneln ihrer sehr. „Durch die Begegnungen fühlte ich mich zum ersten Mal nicht allein mit dieser Geschichte.“
Wie hast du die heute erwachsenen Vertragsarbeiterkinder gefunden?
Begonnen hat das durch einen Zufall. Bei meiner Abschlusspräsentation ist eine Person auf mich zugekommen, die sagte: „Ich habe eine ähnliche Geschichte wie du“. Sie war auch Halbkubanerin und kannte nur eine weitere Person mit unserer familiären Situation. Denn es gibt auch heute noch keine Anlaufstelle für uns. Schwierig ist auch, dass die Vertragsarbeiter*innen teilweise falsch registriert wurden. Die Menschen, die ich porträtierte, konnte ich also nur über Kontakte finden. Zum Beispiel habe ich Freund*innen und Bekannte gefragt, ob sie sich an Personen mit einer ähnlichen Geschichte erinnerten. Daraus entwickelte ein Schneeballprinzip, das sich über Jahre zog. Ich habe vierundzwanzig Personen getroffen. Das war auch toll für mich, weil es das erste Mal war, dass ich mich nicht mehr alleine mit dieser Geschichte gefühlt habe.
In deiner Arbeit sind auch Bilder von dir und deiner eigenen Lebensgeschichte zu sehen.
Genau, vor allem als ich Archivmaterial suchte und mein Eigenes gut integrieren konnte, beschloss ich, dass ich auch ein visueller Teil der Fotoarbeit sein sollte. Durch viele assoziative Bilder steht meine Erzählung metaphorisch auch für die Suche nach einem Elternteil und der eigenen Identität anderer Vertragsarbeiterkinder mit einer ähnlichen Geschichte. Es ist mir wichtig, dass dieses Kapitel der DDR-Vergangenheit sichtbar wird.
Arbeitest du gerade noch weiter an dem Projekt?
Das ist noch im Prozess. Ich habe mich gegen Ende auch stark mit vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen beschäftigt und könnte mir vorstellen daran weiterzuarbeiten. Außerdem habe ich überlegt, die Väter zu suchen oder eine Person bei ihrer oder seiner Suche zu begleiten. Ich denke, dass das Thema an anderer Stelle weitergehen wird.
Alina Simmelbauer (*1981) arbeitet als freie Fotografin im Bereich Porträt und Reportage. Sie studierte Kultur- und Medienpädagogik an der Hochschule Merseburg und machte ihren Master in Fotografie an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule in Halle an der Saale. Zuletzt schloss sie die Meisterklasse an der Ostkreuzschule für Fotografie bei Prof. Ute Mahler und Ingo Taubhorn ab. Sie arbeitete unter anderem schon für DIE ZEIT, das Education-Programm der Berliner Philharmoniker und die Süddeutsche Zeitung. Ihr Fotobuch „Garcías Tochter“ erschien 2020. Das Projekt wurde gefördert durch die Kulturstiftung des Freistaates Thüringen. Sie lebt und arbeitet in Berlin und Leipzig.