Ingmar Björn Nolting

Hinter Fassaden

Das Iduna-Zentrum in Göttingen – die Wohnungen sind 34 Quadratmeter klein, die meisten Bewohner:innen leben von Sozialleistungen. Ingmar Björn Nolting hat sie über Jahre begleitet. Schließlich zog er selbst für einige Monate in das 17-stöckige Hochhaus.

Fotografie Ingmar Björn Nolting

Text Belinda Grasnick

Der emerge Visual Journalism Grant wurde erstmalig im Jahr 2018 vergeben. Ingmar Björn Nolting überzeugte unsere Jury mit seinem Langzeitprojekt „Hinter Fassaden“ und erhielt den Förderpreis in Höhe von 2034 Euro.

Es war die Vision des modernen Wohnens. Ein Hochhaus, aus dem man die ganze Stadt überblicken kann. Zwei lange Brücken, die in die Innenstadt und an die Uni führen. Ein Einkaufszentrum und ein Schwimmbad im unteren Teil des Hauses. Als eine große Versicherung Anfang der 1970er Jahre das Iduna-Zentrum in Göttingen bauen ließ, hätte niemand gedacht, dass es fünfzig Jahre später ein Ort der Hoffnungslosigkeit sein würde.

Wenige Stunden bevor er sich selbst in die geschlossene Psychiatrie einweisen will, raucht Tobias* eine Zigarette. Nach 6 Wochen entließ er sich selbst und wurde rückfällig.

Behind Facades

Der Ausblick aus Tobias* Wohnung. In seinem Verfolgungswahn, ausgelöst durch starken MDPV-Konsum, zerstörte er seine ganze Wohnung und das Fenster.

Behind Facades

Tobias* benutzt zum ersten Mal die Waschmaschinen des Wohnkomplexes, um in sauberer Kleidung in die Psychiatrie zu fahren.

Behind Facades

Christian* und ein Freund in Tobias* Wohnung. In der vergangenen Nacht haben sie zu viel verunreinigtes Heroin konsumiert.

Behind Facades

Denn heute ist das Iduna-Zentrum keine gute Adresse mehr. Die Brücken und das Einkaufszentrum gibt es nicht mehr. Das Schwimmbad ist geschlossen. Wer hier wohnt, kann es sich nicht aussuchen. Die meisten Bewohner:innen bekommen Geld vom Sozialamt. Die meisten Wohnungen sind 34 Quadratmeter klein. Sie sind nicht einmal besonders günstig, denn das Amt zahlt bis zu 453 Euro Bruttokaltmiete für eine Einzelperson – und das wissen die Eigentümer:innen auch.

Maja* und Jan* in ihrer Einzimmerwohnung. Das Gebäude ist durch die Aufzüge und breiten Gänge barrierefrei. Mit 34 qm ist ihre Wohnung aber viel zu klein für die beiden.
Obwohl es in jedem Stock einen Müllschlucker gibt, wird täglich Müll aus den Fenstern auf das Vordach des Hochhauses geworfen.

Ein paar Wochen, nachdem Ingmar ins Iduna-Zentrum gezogen war, ging ihm das Toilettenpapier aus. Er wollte die ältere Nachbarin am anderen Ende des Flurs danach fragen – aber sie öffnete ihm nicht einmal die Tür. „Es gibt kaum Nachbarschaft“, sagt Ingmar. „Man lebt relativ isoliert.“

Nach dem Lehramtsstudium fand Wolfgang* keinen langfristigen Job als Realschullehrer. Heute lebt er mit seiner auf Grundsicherungsniveau aufgestockten Rente in Altersarmut.

Behind Facades

Wolfgang* sammelt Bücher, DVDs, alte Computer und Mitbringsel aus aller Welt. Seit er in das Iduna-Zentrum zog hat er weniger Platz. Wegschmeißen will er nichts.

Behind Facades

Espresso und selbstgedrehte Zigaretten sind der einzige Luxus, den er sich leisten kann. Für die Zutaten seiner Eintöpfe geht er regelmäßig zur Tafel.

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„Mein Leben im und mit dem Iduna-Zentrum“

Neben seinen Bildern wollte Ingmar den Bewohner:innen selbst eine Möglichkeit geben, ihre Gedanken zum Leben im Iduna-Zentrum auszudrücken. Er verteilte hierfür Notizbücher zur freien Gestaltung.

Wie sehen Altersarmut, Wohnungsnot und Suchtkrankheiten aus? Das wollte Ingmar wissen – und dafür ist er fünf Monate in das Iduna-Zentrum eingezogen. Um die Bewohner:innen nicht nur zu fotografieren, sondern Tür an Tür mit ihnen zu leben.

Miroslav* spritzt sich MDPV auf dem Balkon des obersten Stocks. Er ist an diesem Tag Vater geworden und träumt davon, zu der Mutter seines Kindes in die Schweiz zu ziehen.
Anton* auf dem Balkon seiner Einzimmerwohnung, die ihm sein Vater gekauft hat. Der Azubi ist der einzige, der das Hochhaus täglich im Anzug verlässt, deshalb nennen ihn seine Freunde „Prinz Iduna“.

Er hat sich schnell an das Leben im Iduna-Zentrum gewöhnt

, sagt Ingmar. Am Anfang ist ihm der Müll auf den Vordächern noch aufgefallen. Aber irgendwann war es dann normal, dass einige ihren Abfall durch das Fenster entsorgen. Genauso normal wie die Lautstärke, die in dem Haus herrscht. Selbst daran, möglichst ungesehen in den Fahrstuhl zu kommen und in der Wohnung dann in seiner eigenen Welt zu sein, hat er sich gewöhnt.

Nachdem sie aus ihrer Wohnung geworfen wurde, lebt Anna* bei einem Freund im Iduna-Zentrum. Eigentlich plante sie, nur wenige Tage zu bleiben.
Steve* stammt aus einer Ärztefamilie, der Kontakt ist mittlerweile abgebrochen. Sein Studium brach er ab und begann zu trinken. Heute ist er arbeitsunfähig und bezieht Sozialhilfe.

Die Türen im Iduna-Zentrum sind verschlossen. Wer einfach anklopft, wird nicht reingelassen. Aber weil Ingmar fünf Monate blieb, konnte er eine Beziehung zu den Bewohner:innen aufbauen. Sie schrieben sich E-Mails: Willst du zum Kaffeetrinken vorbeikommen? Kann ich meine Wäsche bei dir aufhängen?

Kelly* und ihre sechs Monate alte Tochter. Seitdem sie aus Liberia geflüchtet ist, verbringt sie viel Zeit mit ihrem Tablet, um mit ihrer Familie und ihren Freunden in Kontakt zu bleiben.

So konnte er fast beiläufig Fotos von Menschen machen und gleichzeitig ihren Alltag verstehen. Weil die Bewohner:innen ihn als Nachbarn kannten, nahmen sie irgendwann gar nicht mehr wahr, dass er sie fotografiert. „Das gibt authentische Bilder“, sagt Ingmar. Die Fotos wurden ungestellter, persönlicher und ehrlicher. Dennoch wollten die Bewohner:innen des Iduna-Zentrums ihre Namen nicht unter den Fotos lesen. Wir haben sie deshalb geändert.

Katja* und ihr Ex-Freund* nach dem Konsum von MDMA, in Tobias* Wohnung. Zu diesem Zeitpunkt sind sie bereits seit drei Tagen wach.
Als Katja* ihren Hund letztes Jahr im Sommer von Bekannten bekam, war er sehr aggressiv. Heute braucht er seinen Maulkorb seltener.

Die Fotos druckte Ingmar für die Abgebildeten aus. „Sie haben sich sehr gefreut und haben die Bilder in der Wohnung aufgehängt“, sagt er. Nachdem er die Fotos verschenkt hatte, stellte Ingmar fest, wie unterschiedlich sie wahrgenommen wurden. Viele der Bewohner:innen fanden sich gut getroffen, während Außenstehende eher meinten, sie sähen traurig aus.

Anlässlich der Party hat sie die Wohnung mit Luftballons dekoriert. Julia* genießt es mit ihren Freunden bis in die frühen Morgenstunden zu feiern.

Behind Facades

Einige Tage vor ihrem Auszug saugt Julia* die Wohnung.

Julia* saugt wenige Tage vor ihrem Auszug die Wohnung. //*Name geändert

Florian* und Julia* beim Auszug aus dem Iduna-Zentrum. Ihr Verhältnis zum Wohnkomplex beschreiben sie als „Hassliebe“.

Behind Facades

Blick vom Vordach: Im zweiten Stock feiert Julia* ihren 27. Geburtstag. „Wir können so laut sein wie wir wollen, das interessiert hier sowieso niemanden“, erzählt sie.

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Zwei Tage vor seinem Auszug schmiss Ingmar eine Abschiedsparty – und lud alle ein, die er fotografiert hatte. Die Nachbarin aus dem ersten Stock brachte ihr DJ-Equipment mit. „Es war toll zu sehen, wie sich die Menschen bei der Party treffen“, sagt Ingmar. „Obwohl sie gemeinsam in dem Haus wohnen, haben viele vorher noch nie miteinander gesprochen.“

* Name geändert

Ingmar Björn Nolting, Jahrgang 1995, studierte Fotografie an der Fachhochschule Dortmund. Ingmar arbeitet über lange Zeiträume an fotografischen Essays, die Fragen des sozialen und kulturellen Wandels untersuchen. Er ist Mitglied des DOCKS Collective für humanistische Fotografie. Seine Arbeiten wurden unter anderem mit dem emerge Visual Journalism Grant, dem BFF Förderpreis und einem VG Bildkunst Stipendium ausgezeichnet.

www.ingmarnolting.de
www.dockscollective.com