Einer der besten zeitgenössischen Zirkusse Europas steht in einem alten Schlachthof am Rande von Prag. Die Mauern sind nackt, die Wände neun Meter hoch, Staub liegt in der Luft, nebenan stehen Gebäude leer. Dieser Ort, die Heimstätte des Cirk La Putyka, ist das Gegenteil von repräsentativ.
Lukas Berger
Der Zirkus aus dem Schlachthaus
Der Fotograf Lukas Berger hat Zirkusse auf der ganzen Welt porträtiert. Dann entdeckte er in einem alten Schlachthof in Tschechien eine Aufführung, die ihn fünf Stunden in ihren Bann zog. Seine Fotos zeigen, dass „Zirkus“ heute mehr sein kann als rote Nasen und flache Gags. Viel mehr.
Fotografie Lukas Berger
Text Philipp Daum
Im Winter 2016 kommt Lukas Berger nach Prag. Berger, damals Ende 20, ist so etwas wie ein Zirkusweltreisender. Seit zehn Jahren fotografiert er Akrobaten, Clowns und Puppenspieler überall auf der Welt: in Pakistan, Äthiopien, Deutschland, Russland, China. Er sagt: „Zirkus bringt Kulturen zusammen.“
Im traditionellen Zirkus wiederholt ein Artist sein leben Lang Nummern, bis sie perfekt sind. Cirk La Putyka ist anders, ein zeitgenössischer Zirkus. Es gibt hier also keine Tiere und übermäßig rote Nasen. Stattdessen macht sich das Ensemble über klassische Zirkustricks lustig, es kann also passieren, dass Artisten mitten in der Aufführung Angst vor ihrer Nummer bekommen und sich verstecken. La Putyka vermischt Theater, Tanz, Konzert, Sport, Videokunst, Clownerie und Artistik. Und erzählt Geschichten – wie es sich als Familienunternehmen gehört, Familiengeschichten.
Der Cirk La Putyka ist ein wildes Projekt einer Familie. Im Jahr 2009 gründete Rostislav Novák junior, Sohn einer Puppenspielerdynastie aus Prag, das Ensemble. Ein reisender Zirkus, der ein paar Jahre später eine Heimstätte findet. Sie organisieren ein Crowdfunding, bauen den alten Schlachthof um, sie machen ein Kulturzentrum daraus, „Jatka 78“, mit Theater, Zirkus, Wohnungen. Sie schneidern ihre Kostüme selbst, sie bauen ihre eigenen Requisiten. Heute hat das Ensemble knapp 20 Mitglieder: Clowns, Akrobaten, Musiker, Puppenspieler.
Berger bleibt zwei Wochen in Prag, er sieht die Aufführungen, er fotografiert die Proben, und er lebt in den Räumen des alten Schlachthofs. Auch Weihnachten erlebt er in Prag und die alte Sitte, dass Grundschulkinder den Zirkus besuchen und durch Hölle und Himmel geführt werden, wo Engel mit Geschenken auf sie warten.
Es geht um Hilflosigkeit, um Abhängigkeit, Kunst und Selbstbehauptung, die tschechische Geschichte, hier wird alles verhandelt
An den Moment, an dem er La Putyka verfiel, kann er sich noch erinnern: Es war eine Aufführung von „Black Black Woods“, einem Fünf-Stunden-Familiendrama, das nur aus zwei Personen und einem großen Quadrat als Spielfläche besteht. Vater und Sohn, Rostislav Novák Senior und Rostislav junior, spielen Vater und Sohn, einen alten Puppenspieler und einen Jungen, der ihm nachfolgen soll. Es geht um Hilflosigkeit, um Abhängigkeit, Kunst und Selbstbehauptung, die tschechische Geschichte, hier wird alles verhandelt.
Weil das Stück lang und intensiv ist, geht es langsam los, zu Beginn dürfen die Zuschauer den Raum verlassen, um Kaffee zu trinken. Aber Lukas Berger bleibt sitzen. Er sagt: „Da saß ich fünf Stunden und war echt ziemlich …“, und dann sagt er nichts mehr.
Lukas Berger wurde 1989 im oberösterreichischen Linz geboren. Er hat Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover studiert. 2014 ist sein erstes Fotobuch „Circus“ im Verlag Kettler erschienen. Seitdem hat er weitere Zirkusse porträtiert, dabei sind auch Filme entstanden. Der neueste Film „Circus Movements“ wurde auf dem Ann Arbor Film Festival und dem Melbourne Film Festival gezeigt. Momentan studiert Lukas Berger im Rahmen des Dokumentarfilm-Masters DocNomads in Lissabon.