Der Hambacher Forst im Rheinland liegt südlich eines der größten europäischen Abbaugebiete für Braunkohle. Seit Beginn der Kohleförderung im Jahr 1978 wurde der Tagebau kontinuierlich ausgeweitet, von dem einst 4.100 Hektar großen Forst sind heute lediglich etwa 200 Hektar übrig. Der BUND schätzt das Alter des Waldes auf mehr als 12.000 Jahre, auch streng geschützte Arten wie die Bechsteinfledermaus haben hier ihren natürlichen Lebensraum. Am 5. Oktober 2018 untersagte das Oberverwaltungsgericht Münster die Abholzung durch Tagebaubetreiber RWE vorerst und stellte fest, dass der Wald öffentlich zugänglich bleiben müsse. Derzeit gilt ein Rodungsmoratorium der Landesregierung bis zum Jahr 2020.
Tim Wagner
Widerstand im Unterholz
Seit sieben Jahren halten AktivistInnen den Hambacher Forst besetzt und kämpfen für den Erhalt des Waldes. Dabei geht es ihnen um weit mehr als das Ende der Rodungen.
Fotografie & Text Tim Wagner
Carpe Noctem steht auf dem großen weißen Banner geschrieben, welches von einem Haus gut 30 Meter hoch in der Krone des Baumes herabhängt. Carpe Noctem – Nutze die Nacht, angelehnt an die Ode des römischen Dichters Horaz, ist ein treffendes Motto für diesen Ort. Denn wer hier lebt, lebt in die Nacht, mit der ständigen Bedrohung, dass das eigene Zuhause am kommenden Tag nicht mehr existieren könnte.
Der Hambacher Forst oder Hambi, wie ihn die AktivistInnen liebevoll nennen, ist ein kleines besetztes Waldstück vor dem Tagebau Hambach im rheinischen Braunkohlerevier. In dem verbliebenen Stück Wald haben AktivistInnen dutzende Baumhäuser errichtet und verschiedene kleinere Siedlungen angelegt. Solange sie im Wald leben und auf den Bäumen schlafen, können diese nicht gefällt und keine Vorbereitungen für die Rodung getroffen werden. Ihr Ziel ist es, die Abbaggerung des Waldes und damit die Erweiterung des Braunkohletagebaus zu verhindern.
Der Wald verbirgt die Aktivitäten und Vorhaben der AktivistInnen. Er ist ihr Anliegen, ihr Lebensraum, ihr Experiment für eine bessere Gesellschaft. Es ist eine Enklave für all jene, welche mit einer Lebensweise brechen wollen, die auf der Ausbeutung dieses Planeten beruht, und die nach Alternativen und Zuflucht suchen. Einige der AnwohnerInnen aus den umliegenden Dörfern unterstützen den Protest. Sie bringen alles Notwendige zum Leben: Essen, vor allem Wasser, Süßigkeiten und im Winter warme Kleidung, außerdem Handys und hin und wieder bieten sie eine warme Dusche. Sie vermitteln, dokumentieren und haben eigene Aktionsformen. Sie sind untrennbarer Teil dieses Ortes und die Besetzung wäre ohne sie so nicht möglich.
Die Freiheit, die wir jetzt kennen, kann uns niemand mehr nehmen
Wer einmal im Wald angekommen ist, verlässt ihn nie wieder ganz. Der Wald wird Teil der eigenen Lebensgeschichte. Eine Erfahrung irgendwo zwischen Jugendfreizeit, Anarchie und Kommunismus. „Die Freiheit, die wir jetzt kennen, kann uns niemand mehr nehmen“, sagten die AktivistInnen oft. Manche bleiben für Jahre, sie leben hier, ihre FreundInnen leben hier, der Wald ist ihr Zuhause geworden. Andere kommen für Tage oder Wochen und viele kehren immer wieder zurück. Der Widerstand ist breit gefächert und reicht von militant bis bürgerlich. Es gibt keine Organisationsstruktur oder einen bindenden politischen Konsens. Kein abendliches Plenum
, keine gemeinsame Entscheidungsfindung, oder einheitliche Agenda. Wer hier spricht, spricht nur für sich. Wer Menschen für gemeinsame Aktionen sucht, der findet sie und schließt sich vorübergehend zusammen.
Im Wald selbst ist es meist ruhig. Nur das Schlagen der Hämmer hallt durch die Baumwipfel. Es ist ein ausdauerndes Geräusch, welches von fleißigen Menschen zeugt, die beständig Plattform für Plattform den Wald erobern. Die Siedlungen und Baumhäuser tragen Namen. Manche davon heißen Lorien, Endor, Oaktown, Gallien, Beechtown, Nest, Paradies, Orca oder Chillum. Auch die Menschen im Wald haben neue Waldnamen. Sie sind, wie die Namen der Siedlungen und Häuser, oft verknüpft mit witzigen Anekdoten, Idealen oder Wünschen, die sich „draußen“ nicht realisieren lassen. Angesprochen wird sich ohne Pronomen. Es gibt nicht sie oder ihn, es gibt nur Mensch. Wie selbstverständlich laufen die meisten vermummt durch den Wald. Manche sehen sich damit in der Tradition der Zapatistas aus Mexiko, die ebenfalls ihr Gesicht verbergen, andere tun es aus politischem Pragmatismus – um sich vor einer der Strafverfolgung zu schützen.
Viele grüßen freundlich und am Ende kennen doch irgendwie alle einander. Oder zumindest diejenige Person, die sie im Wald gerne sein möchte. Der Wald hat auch seine eigene Zeitrechnung: die Hambach-Zeit. Denn wer von einem zum anderen Ende des Forsts geht, trifft auf viele vermummte aber bekannte Gesichter und so können auch schon mal einige Stunden bis zur eigentlichen Verabredung vergehen.
An wenigen Orten liegen Freiheit und Gefangenschaft so dicht beieinander
Im Hambacher Forst herrscht ein Gefühl von Freiheit, das eigene Leben unabhängig von sozialen oder ökonomischen Zwängen der „normalen“ Gesellschaft zu gestalten. Frei von Arbeit, frei von Stereotypen und Geschlechternormen, frei von den alltäglichen Zumutungen des Kapitalismus. Und auch Teil zu sein von etwas Größerem: dem Kampf für ein uraltes Waldstück und gegen die Lebensweise von wenigen Reichen. Gleichzeitig aber vorherrscht eine Art Gefangensein im Kampf für den Wald unter dauerhaftem Stress, sich verbergen zu müssen. Das Gefangensein droht durchaus auch im direktem Sinne: durch die Polizei bei einer möglichen Räumung.
Zum ersten Mal wurde eine solche Räumung des Waldes im September 2018 vollzogen. Dafür wurden Bäume gefällt und Barrikaden geräumt. Menschen wurden weggetragen, Kontrollen durchgeführt und der gesamte Wald gesperrt. Anschließend fuhren große Hebebühnen an die Baumhäuser und jeder einzelne Mensch wurde aus den Bäumen gepflückt. Auch das SEK kam zum Einsatz. Manche AktivistInnen saßen in großer Höhe und drohten damit, ihre Seile zu kappen, andere hatten sich an die Bäume gefesselt. Für alle Beteiligten war die Räumung eine sehr kräftezehrende und mental extrem belastende Situation. Als schließlich alle Bäume geräumt waren, wurden die Seile der Baumhäuser gekappt und große Holzerntemaschinen holten mit ihren Greifarmen die letzten Reste der Siedlungen aus den Bäumen.
Mit der Räumung des Hambacher Forsts wurde aus der Besetzung durch einige hundert AktivistInnen, die vor sieben Jahren begonnen hatte, im Herbst 2018 eine bundesweite Bewegung. Nach den Blockaden der Castor-Transporte und den Aktionen des Bündnisses Ende-Gelände entstand eine der größten, radikalsten Umweltbewegungen in Deutschland. Im Anschluss an die Räumung kamen am 6. Oktober 2018 rund 50.000 Menschen zu einer Großdemonstration rund um den Hambacher Forst zusammen. Darüber hinaus konnte eine Klage des BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) die Rodung des Waldes vorerst stoppen.
Seit Februar dieses Jahres gilt mittlerweile ein Moratorium der Landesregierung Nordrhein-Westfalen: Bis 2020 soll die Abholzung des Hambacher Forsts ausgesetzt werden. RWE hat sich diesem Moratorium zwar angeschlossen, hält allerdings weiterhin an den Rodungsplänen fest, um den Abbau von Braunkohle planmäßig ausweiten zu können. Der Aussichtspunkt mit Blick über das gigantische menschengemachte Loch, das der Tagebau in die Landschaft gerissen hat, trägt den Namen Terra Nova – Neue Erde.
Tim Wagner (*1991) hat bereits während des Soziologie-Studiums in Leipzig mit dem Fotojournalismus begonnen. Einen besonderen Fokus legte er dabei auf die Themen Migration, Rechtsextremismus und soziale Bewegungen. Nach seinem Bachelor-Abschluss und einem Praktikum beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk studiert er mittlerweile seit 2017 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover. Seine Bilder wurden in zahlreichen Zeitungen veröffentlicht, darunter der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung, die taz und Enorm. Tim vertreibt seine tagesaktuellen Bilder über die Agentur Imago.