„Psychisch gesunde Menschen haben keine Ahnung von den Schmerzen in meiner Seele“, sagt Aurelia. In den Niederlanden, wo sie lebt, ist Euthanasie seit 2002 erlaubt. Jedes Jahr beenden dort mehrere tausend Menschen ihr Leben, und werden dabei legal von einem Arzt unterstützt, weil ihre Schmerzen unerträglich sind und es keine Chance auf Heilung gibt.
Wann ist ein Leid zu groß, um damit zu leben?
Aurelia ist körperlich gesund, sie könnte noch lange weiter leben. Aber sie leidet an schweren psychischen Erkrankungen. Sie hat (neben anderen chronischen Krankheiten) das Borderline Syndrom, Depressionen, verschiedene Angststörungen, Essstörungen. Seit ihrem 21. Lebensjahr hat sie mehrmals versucht, Suizid zu begehen. Sie sagt: „In meinem Kopf ist ein Monster, das mich mit hundert Messern sticht.“ Sie hat alle möglichen Behandlungen und Therapien gemacht. Aber das Monster wächst immer weiter. Sie sagt: „Ich würde gerne leben, aber ich will nicht mehr leiden.“
Euthanasie ist in den Niederlanden für psychisch Kranke legal. Aber Ärzte erlauben es nur in wenigen Fällen. Aurelia sagt: „Es ist mein Leben, mein Schmerz, meine Entscheidung, mein Tod. Wenn Menschen mit Krebs sterben dürfen, warum nicht auch ich?“
In den Medien wird nur in Ausnahmefällen über Suizid berichtet, und zwar aus einem guten Grund: um weitere Suizide zu verhindern. Aurelia sagt, sie will nicht auslösen, dass andere Menschen sich selbst umbringen. Sie will, dass diejenigen, die ihr Leben wirklich wegen des Leidens beenden wollen, die Chance bekommen, selbstbestimmt und unterstützt von einem Arzt zu sterben. Nicht allein, nicht nach einer selbst gemischten Überdosis, nicht nach einem Sprung vor den Zug oder vom Hochhaus. Sondern daheim, im eigenen Bett, umgeben von ihren Lieben. In Würde.
In den Niederlanden entsendet die Levenseindekliniek (Lebensende-Klinik) mobile Teams für die ambulante Sterbehilfe. Aurelia hat dort 2012 zum ersten Mal die Erlaubnis zum Sterben beantragt.
Sie wird zunächst abgelehnt, weil sie noch nicht alle Behandlungsmöglichkeiten ausprobiert hat. Sie spricht mit Ärzten und Psychologen, füllt Formulare aus, sieht ihre Krankenakte ein. Und sie geht an die Öffentlichkeit.
„Was ist der Unterschied zwischen einem unheilbar kranken Patienten, der den Schmerz seiner physischen Krankheit nicht mehr ertragen kann, und einem unheilbar kranken Patienten, der den Schmerz seiner psychischen Krankheit nicht mehr ertragen kann?“
Für Aurelia wird diese Frage zur Mission. Sie bloggt, postet in Selbsthilfegruppen bei Facebook, twittert, tritt im Fernsehen auf. Sie will ihre Geschichte erzählen, Bewusstsein schaffen, und hofft, mehr Verständnis für Euthanasie bei psychisch kranken Patienten zu schaffen.
Am 31. Dezember 2017 erhält Aurelia einen Anruf von der Klinik: In 26 Tagen darf sie sterben.
Wenige Tage später fahre ich zu ihr in die Niederlande. Die letzten drei Wochen ihres Lebens verbringen wir zusammen.