Jewgeni Roppel

Diaries From Samar

Sieben Wochen war Jewgeni Roppel Teil der Gemeinschaft des Kibbuz „Samar“ in der Negev-Wüste und führte mit seinem Smartphone ein fotografisches Tagebuch. So entstand das Portrait eines der letzten anarchistischen Kollektive Israels, das jenseits von Siedlungspolitik, Medien und religiöser Dogmen seine Vision eines alternativen Lebens verwirklicht hat.

Fotografie Jewgeni Roppel
Text Alexandra Horn

„Wir bauten den Kibbuz wie eine Raumstation, um in der Umwelt zu überleben, nicht um ein Teil von ihr zu werden“, erzählt Yair Selah, einer der Gründer von Samar. „Keine Komitees, keine Gesetze, keine Bosse. Jeder entscheidet für sich. Organisierte Anarchie statt Kommunismus. Die Wüste winkte uns zu.“

18 Freunde schlossen sich 1972 zusammen, um ihre Vision eines anarchistisch orientierten Kibbuz in der Negev Wüste im Süden Israels zu realisieren. Eine Art alternatives Paradies innerhalb dessen man als Gemeinschaft von Gleichgesinnten, abseits von materialistischen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen im Kollektiv lebt und sich wirtschaftlich versorgt.

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ lautet der berühmt gewordene Satz von Helmut Schmidt. Als Samar Mitte der 70er Jahre gegründet wurde, begann der Stern der Kibbuzim, bis dahin die beständigste sozial-utopische Form im 20. Jahrhundert, gerade zu sinken.

Nach der Einwanderung nach Palästina, war es zur Gründung erster Kibbuzim als landwirtschaftliche Kollektivsiedlungen nach rein sozialistischen Vorstellungen gekommen und seit der Staatsgründung Israels 1948 verstanden sie sich als Elite der Nation.

Die Gründungsväter sahen in ihnen ein soziales Experiment als Alternative zu kleinbürgerlichen Familienstrukturen. Die Gemeinschaft übernahm die Kindererziehung, einen Großteil der Kosten für Ausbildung, Gesundheit und Altersversorgung. Entscheidungen wurden in der Generalversammlung, nach dem Prinzip direkter Demokratie getroffen.

Der Slogan „Von der Stadt auf´s Land“ bedeutete aber nicht nur das Land zu bestellen, sondern auch, es zu verteidigen, sodass viele Bewohner in Eliteeinheiten des Militärs dienten.

„Während des Yom Kippur Krieges mussten viele Kibbuzim angesichts vorrückender syrischer Gruppen evakuiert werden. Dadurch wurde die Wahrnehmung der Kibbuznik, als diejenigen die ‚koste es, was es wolle‘ die Stellung hielten, überschattet. Von hier an gab es immer mehr Spaltungen: Rechts gegen links, Arbeiterbewegung gegen Revisionisten“, erzählt Selah.

Die Bewohner von Samar lernten Kompromisse einzugehen, um ihre Vision am Leben zu erhalten

Als 1977 die Likud Regierung an die Macht kam, bedeutete dies eine weitere Zäsur für die Kibbuzim, die bis dahin mit günstigen Krediten unterstützt wurden. Als die Schuldenberge wuchsen, ersetzten immer mehr Kibbuzim den real existierenden Sozialismus durch marktwirtschaftliche Richtlinien und Leistungsprinzipien. Die Bewohner von Samar lernten Kompromisse einzugehen, um ihre Vision am Leben zu erhalten.

Jewgeni Roppel geht es in seinem fotografischen Tagebuch darum, Samar als gelebte Utopie zu zeigen. Sein Smartphone gab ihm dabei die Freiheit, jede Situation, ob bei der Arbeit, während seiner Freizeit oder anderen Aktivitäten, spontan dokumentieren zu können. Dabei gilt sein Blick vor allem seinen Protagonisten und ihrer Beziehung zur Natur. Er legt spezielle Filter auf seine Bilder, die Samar fast unwirklich entrücken lassen und den Betrachter auf eine Zeitreise in die 70er Jahre schicken.

Der Eindruck, in Samar sei die Zeit stehen geblieben, täuscht aber. Samar hat sich ökologisch weiterentwickelt und sich den Lebensbedingungen in der Wüste angepasst. Der Kibbuz wurde zum Pionier in der Nutzung von Sonnenenergie. Der arbeitsintensive Gemüseanbau wurde aufgegeben, stattdessen hat man sich auf Dattelpalmen spezialisiert. Die Bewohner haben sich den demografischen Herausforderungen gestellt und gelernt, den Arbeitsalltag so zu organisieren, dass genug Freizeit für alle bleibt.

Man müsse alle Machtspiele dekonstruieren, um miteinander in Verbindung zu kommen, meint Yuval Ketner, Businessmanager von Samar. Es ginge darum, Interessen zu erkennen und sie miteinander vereinbar zu machen.

Samar ist heute stolz auf den größten Dattelpalmenhain Israels. Er bringt Geld in die Kommune. Zusätzliche Einkünfte bringt eine Molkerei, der Verkauf von Rasen, Mountainbiketouren, Führungen durch die Wüste, Kunstworkshops sowie eine Firma, die Maschinen für die Landwirtschaft entwickelt.

Aber Ketner betont: „Die Stärke von Samar ist nicht ökonomischer Natur, sondern sozialer. Jedes Individuum ist hier frei sich zu entfalten und zu wachsen. Der Kibbuz mischt sich nicht in das Privatleben der Menschen ein.“ stop

Jewgeni Roppel wurde 1983 in Tschimkent, Kasachstan geboren. Er studierte zunächst Fotografie in Halle an der Saale und schloss später in Bielefeld mit einem Master ab. Seine Arbeiten wurden international ausgestellt und veröffentlicht und erhielten zahlreiche Auszeichnungen u.a. Gute Aussichten, Canon Profifoto Förderpreis und Winner Kolga Tbilisi Photo Festival. Themenschwerpunkte seiner Projekte sind politische Umbrüche und gesellschaftliche Bewegungen sowie alternatives Leben und kulturelle Identität. Jewgeni Roppel lebt in Hamburg.

jewro.de

Alexandra Horn ist Diplom-Medienwissenschaftlerin mit besonderem Fokus auf Kulturwissenschaft. Vor dem Studium arbeitete sie als Cutterin für öffentlich-rechtliche und private Fernsehsender. Themenschwerpunkte ihrer Veröffentlichungen sind Reisen sowie kulturelle und politische Perspektivwechsel. Sie betreibt den Blog DasMeerundApulien.com