Plattenbau-Trabantenstadt Neulobeda, Jena: Wohnort der Familie Uwe Böhnhardts.
Paula Markert
Die Mordserie des NSU
Über ein Jahrzehnt lang lebten die Mitglieder der rechtsextremen Terrorgruppe im Untergrund, verübten zahlreiche Morde, Raubüberfälle und Sprengstoffanschläge. Der fünfjährige NSU-Prozess endete im Juli 2018. Doch viele Fragen bleiben offen – eine Qual für die Angehörigen der Opfer.
Am 6. Mai 2013 begann vor dem Oberlandesgericht München der Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte, die mit der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in Verbindung gebracht werden. Im November 2011 war die terroristische Vereinigung nach neun rassistisch motivierten Morden, einem Polizistenmord sowie mehreren Sprengstoff-Attentaten aufgeflogen, nachdem sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach in ihrem Wohnmobil mutmaßlich das Leben nahmen. Beate Zschäpe und vier verdächtigte Helfer und Unterstützer des NSU standen fünf Jahre lang vor Gericht. Am 11. Juli 2018 wurde das Urteil verkündet, in dem Beate Zschäpe wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Ihre Anwälte legten Revision gegen das Urteil ein.
„2012 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede versprochen, dass alles dafür getan werden sollte, um alle an den NSU-Verbrechen Beteiligten ausfindig zu machen. – ‚Sie sind eine Schande für unser Land‘, sagte Merkel in der Rede. Aber als die Anklage präsentierte wurde, umfasste diese lediglich Beate Zschäpe, die einzige Überlebende des Kerntrios, sowie vier weitere Personen, die der Unterstützung des Trios mit Waffen und Geld verdächtigt wurden. Anstatt als Netzwerk wurde der NSU als isolierte Zelle dargestellt. Ein Unglück anstatt eines Symptoms gesellschaftlichen Versagens. Das, was ein Trauma für ein ganzes Land sein sollte, hat sich im Schatten einer neuen politischen Rechten in ein Achselzucken verwandelt.“ [Arvid Jurjaks]
Was erzählt die Existenz dieser Terroristengruppe und ihr jahrelang unaufgedecktes Schaffen über unsere Gesellschaft und die Strukturen ihrer Exekutive?
Zwischen Herbst 2014 und Frühjahr 2017 reiste Paula Markert auf den Spuren des NSU durch Deutschland, um Menschen und Orte zu fotografieren, die mit dem NSU-Komplex in Verbindung stehen. Diese Spurensuche war ein Versuch, die Fassungslosigkeit, die der Fall ausgelöst hatte, zu visualisieren. Sie wollte verstehen, wie ein Land aussieht, in dem eine rechtsextreme terroristische Vereinigung aus dem Untergrund heraus zehn Menschen ermorden konnte – das alles unter den Augen des Verfassungsschutz.
„[…] Erkennbar werden Tendenzen zu Dominanz, Härte, Durchsetzungsfähigkeit und Diskussionsfreude. Schließlich gibt es ein Spielen mit Rollen und offenbar eine Freude daran, ein interessantes, schillerndes Bild von sich zu zeichnen. Dagegen gibt es im Brief keine Hinweise für eine psychische Erkrankung mit schwerwiegenden Verstimmungen oder Störungen der Realitätskontrolle, ebenso keine Hinweise auf eine massive Persönlichkeitsstörung. Das aus dem Schreiben entstehende Bild spricht gegen die Hypothese einer schwachen, abhängigen, fremdbestimmten und sich resignierend unterordnenden Person.
Hinweise für Brüche in der Entwicklung, eine persönliche Erschütterung oder eine innere Umkehr lassen sich aus dem Brief nicht entnehmen. Allerdings ist dabei natürlich zu berücksichtigen, dass der Brief vor dem Prozess und im Wissen um eine mögliche Kontrolle verfasst wurde. Würde man den Brief weglassen, so ergäbe sich kein gänzlich anderes Bild von der Angeklagten. Vielmehr entspricht das Schreiben der Charakterisierung der Persönlichkeit, wie sie sich aus den Zeugenschilderungen und auch den Beobachtungen in der Hauptverhandlung ergibt. Von daher reiht der Brief sich schlüssig und ergänzend in die übrigen Informationen ein. Das spricht für eine Kontinuität der wesentlichen Persönlichkeitszüge von Beginn der Berichtszeit Mitte der 90er Jahre bis in die Gegenwart.“
— Prof. Dr. Henning Saß (Psychiatrisches Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe) Protokoll 337. Verhandlungstag – 18. Januar 2017
„Der Job des Sozialarbeiters ist nicht, die Tür aufzuschließen. Sondern mit den Menschen, die kommen, in Kontakt zu treten und ihnen ein Gegenüber zu sein. Weder damals, aus meinem damaligen Blick, noch heute, nach den ganzen Akten und den ganzen Untersuchungsausschuss-Sitzungen kann ich nur sagen: schlimm. Und schlimm, dass so etwas ein kommunales Jugendzentrum war. Und dass das auch damals, als es die Kritik schon gab, überhaupt keine Reaktionen gegeben hat. Ich weiß noch, die Junge Gemeinde hat 1997 oder 1998 zu einer Demo aufgerufen nach Winzerla, da hat eine Jugendliche, die war damals 16 oder 17, einen kleinen Flyer gebastelt – mit der Hand geschrieben, A6 – und der wurde dann irgendwie kopiert und verteilt: ‚Winzerla ist schon national befreite Zone, wir müssen aufpassen, dass nicht auch das Stadtzentrum eine national befreite Zone wird.‘ Und daraufhin gab es einen Brief von den Sozialarbeitern der Stadt Jena, darunter Kaktus, die geschrieben haben, dass damit ihre Arbeit beschädigt wird, dass die Jugendlichen in Winzerla nicht rechts sind, sondern sozial benachteiligt und dass nur ihre Form der akzeptierenden Jugendarbeit die Jugendlichen vor dem Abtauchen in den rechten Untergrund schützt. – Das war ein paar Monate nachdem die Drei untergetaucht waren.“
— Katharina König, Mitglied der Partei Die Linke, seit 2009 Thüringer Landtagsabgeordnete
„Ich war damals – 1995 – 25 Jahre alt und bin Ende 1995 dazu gekommen, zu dieser Sonderkommission REX, Rechtsextremismus, und bin dann gleitend übergegangen in die Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus und hab dort im Prinzip gearbeitet beziehungsweise meinen Dienst geleistet bis Frühjahr 1998, bis es zum Eklat kam, also nach dieser Garagendurchsuchung, und bin dann gewechselt. Im Vorfeld waren da ja sehr viele Ermittlungsverfahren und Komplexe, die ich begleitet habe und leider Gottes ist es dann ohne mich geendet, bei dieser Garagendurchsuchung, das wäre für mich ein krönender Abschluss gewesen, allerdings nicht mit dem Ergebnis, dass man sie hat laufen lassen. Ich habe halt im Vorfeld unheimlich viel gegen die Beteiligten ermittelt und gerade auch Böhnhardt und Zschäpe vernommen. Ja und nachdem das so ausgegangen war, dass die untergetaucht sind, hat mich das eigentlich nicht losgelassen, weil diese ganzen Ungereimtheiten, die ich auch miterleben musste, haben mich auch immer mehr zur Kritik bewogen an meinen Kollegen und an meiner Behörde und das hat bei mir dazu geführt, dass ich sehr unbequeme Fragen gestellt habe und auch Vieles in Frage gestellt habe. Ja, und als dann 2011 diese Kiste wieder hochgekocht ist im Allgemeinen, insofern man dieses Wohnmobil da in der Nähe von Eisenach, Ortsteil Strepda, aufgefunden hat, mit Böhnhardt und Mundlos, da ist das natürlich über mich in einem ganz besonderen Maß noch einmal hereingebrochen. Es hat mich ja nie losgelassen, die ganze Sache. Und als das dann passiert ist, das war eigentlich unbeschreiblich für mich, da sind so viele Dinge über mich eingebrochen, so dass ich die schlimmsten Befürchtungen, die ich mal hatte, bestätigt gesehen habe.“
— Mario M., in den 1990er Jahren Mitglied der Sonderkommission Rechtsextremismus und der Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus in Thüringen
M.: „Gegrillt hat meistens der Gerry, war auch handwerklich geschickt. Geld verwaltet hat Frau Zschäpe, waren mal essen, hat sie bezahlt. Wenn sie uns was mitbringen sollten, habe ich mich immer gleich an sie gewandt und ihr das Geld gegeben. Bezahlt immer bar. Habe gesehen, dass sie eine Menge Scheine im Portemonnaie hatte. Uns wurde ganz am Anfang erzählt, dass die Männer in die Urlaubskasse einzahlen und es die Liese verwalte.“
[…]
G.: „Verhalten?“
M.: „Nett – Gerry hat sich Auszeit genommen. Mit Boot auf das Meer gefahren.
Zschäpe wurde dann schon unruhig. Max zum Surfen – mit meinem Mann. Zschäpe auch mit am Strand zum Surfen, hatte das mal versucht. Wenn abends kälter wurde, hat einer eine Decke für Frau Zschäpe geholt.“
— Zeugin Karin M. NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll, 60. Verhandlungstag, 26.11.2013
Eine Akte ist zu vernichten, wenn sie insgesamt zur Erfüllung der Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz nicht oder nicht mehr erforderlich ist. Die Erforderlichkeit ist bei der Einzelfallbearbeitung und nach festgesetzten Fristen, spätestens nach fünf Jahren, zu prüfen. Für die Vernichtung einer Akte, die zu einer Person im Sinne des §10 Absatz 1, Nummer 1 geführt wird, gilt §12 Absatz 3, Satz 2 entsprechend.
Eine Vernichtung unterbleibt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt würden. In diesem Fall ist die Akte zu sperren und mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen. Sie darf nur für den Zweck verwendet werden, für den sie gesperrt worden ist oder wenn es zur Abwehr einer erheblichen Gefahr unerlässlich ist. Eine Vernichtung der Akte erfolgt nicht, wenn sie nach den Vorschriften des Bundesarchivgesetzes dem Bundesarchiv zur Übernahme anzubieten und zu übergeben ist.
— Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4654, 18. Wahlperiode, 20.04.2015
SONNTAG: „Als es dem Ende zuging und das Haus in die Luft gesprengt wurde, da wirkte sie sehr angespannt, sie wirkte sehr unter Stress, hat auch mehr getrunken als sonst. Das letzte Mal hab ich sie gesehen so zirka 14 Tage, bevor das Haus in die Luft flog.“
GÖTZL: „Mehr getrunken als sonst – was meinen Sie damit?“
SONNTAG: „Es blieb meist im Rahmen, sie musste ja auch mit dem Rad nach Hause fahren. Aber da hat sie Mischungen gemacht mit härteren Alkoholsachen. Sie wirkte sehr gestresst.“
GÖTZL: „Hatte sie dann Probleme mit dem Gehen oder Sprechen?“
SONNTAG: „Sie kam etwas schwer aufs Fahrrad.“
GÖTZL: „Sie haben in der polizeilichen Vernehmung von einem Streitgespräch zwischen Lisa und Frau Kuhn berichtet. Lisa habe ihr eine Standpauke gehalten und sich gar nicht beruhigen können.“
SONNTAG: „Ja, da war sie so aggressiv, so kannte ich die Lisa nicht. Sie ist der Frau Kuhn sehr auf die Pelle gerückt. Ich dachte, sie haut ihr eine. Das ist dann aber nicht passiert.“
STAHL: „Worum ging es denn in dem Streit?“
SONNTAG: „Na ja, wenn Frau Kuhn Geld in der Hand hatte, wurde alles Mögliche gekauft.“
STAHL: „Weshalb hat sich Lisa dafür interessiert?“
SONNTAG: „Frau Kuhn hat oft Leute angepumpt, Lisa war nicht die Einzigste. Auch dieses Mal ging es darum, dass was gekauft werden sollte für eine Feier. Und Frau Kuhn hat gesagt, dass sie kein Geld dafür hat. Sie wollte wieder von jemand Geld haben. Aber Lisa hat die Nase voll gehabt, dass sie andere immer um Geld angepumpt hat.“
— Verhandlungstag 186, 24. Februar 2015, Manfrad Götzl, Richter. Gabriele Sonntag, 46, Altenpflegerin aus Zwickau. Wolfgang Stahl, 43, Verteidiger von Beate Zschäpe.
Aus: „Der NSU Prozess – das Protokoll des dritten Jahres“, Süddeutsche Zeitung Magazin 1/2016
Paula Markert (*1982) hat Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der HAW Hamburg und der Universität von Barcelona studiert. Ihre Diplomarbeit „Die Verhältnisse“, mit der sie 2011 ihr Studium an der HAW Hamburg abschloss, wurde 2012 mit dem BFF Förderpreis sowie dem Dokumentarfotografie Förderpreis der Wüstenrot Stiftung ausgezeichnet. Die Publikation ihres Projektes „Die Mordserie des NSU – eine Reise durch Deutschland“ im Sonderheft des SZ Magazin (1/2016) gewann bei den Lead Awards 2016 Bronze in der Kategorie „Bester Beitrag“ und war Teil der Hauptausstellung des f/stop Festivals 2016 in Leipzig. Im Juni 2018 zeigte sie ihre neue Arbeit ring/Halqa im Rahmen der Off-Triennale der Photographie in Hamburg. Paula Markert arbeitet unter anderem für Die Zeit, SZ Magazin, Stern, Geo, taz, Les Echos u.v.m. Ihre freien, meist als Langzeitprojekte angelegten Arbeiten, beschäftigen sich mit gesellschaftlich und politisch relevanten Themen und untersuchen den Menschen im Kontext seiner emotionalen Beziehungen und den Strukturen seines sozialen Umfeldes. Paula lebt und arbeitet als freischaffende Dokumentarfotografin derzeit in Hamburg.