Solmaz Daryani
The Eyes of Earth
Aktivisten gegen das Vergessen
Der Urmiasee im Nordwesten des Iran, unweit der türkischen Grenze, zog einst Touristen aus dem In- und Ausland gleichermaßen an. Urlauber kamen, um sich zwischen den vielen Vogelarten, unter ihnen Flamingos und Pelikane, in dem salzigen Wasser treiben zu lassen, dem heilende Eigenschaften nachgesagt wurden. Heute ist der See vom Austrocknen bedroht. In den vergangenen 50 Jahren schrumpfte er auf zehn Prozent seiner ursprünglichen Größe, übrig blieb im restlichen Gebiet nur noch das Salz. Die Ursachen für das Austrocknen sind vielfältig. Forscher führen das Austrocknen des einst größten Binnensees des Mittleren Osten nicht nur auf klimatische Veränderungen wie den Rückgang der Niederschläge, sondern auch auf politische Fehlentscheidungen zurück: Zu viele Dämme wurden gebaut, zu viel Wasser für die Landwirtschaft abgezweigt. Das Verschwinden des Sees bedeutet für die Anwohner, die einst vom Tourismus leben konnten, existenzielle Veränderungen. Ökologen beklagen: Vogelarten verschwinden. Salzstürme nehmen zu.
Die Social-Media Kampagne I am Lake Urmia konnte 2016 öffentlich Aufmerksamkeit mit einem Appell an den Iranischen Präsidenten erregen, die Schäden für die Umwelt, die das Schwinden des Sees bedeuten, nicht länger zu ignorieren. Mehr als anderthalb Millionen unterschrieben die Forderung nach sofortiger Aktion an die Vereinten Nationen.
emerge hat die Fotografin Solmaz Daryani zu ihrer Arbeit befragt.
In deiner Arbeit „The Eyes of Earth, Die Augen der Erde“ hast du dich mit dem vom Austrocknen bedrohten Urmiasee im Iran beschäftigt – einen Ort deiner Kindheit. Was verbindet dich mit diesem See?
Ich bin in Tabris aufgewachsen, ungefähr eine Stunde von der Hafenstadt Sharafkhane entfernt, in der meine Großeltern noch heute leben. Meine Mutter und ihre Brüder sind dort geboren. Meine Großeltern führten hier ein Motel – ein großes Haus mit Garten und verschiedenen kleinen Gästehäusern. Sharafkhane liegt am Urmiasee und war früher ein sehr touristischer Ort. Urlauber aus aller Welt kamen hierher, Europäer, Amerikaner. Mein Onkel betrieb einen Verleih, er vermietete kleine Boote für Rundfahrten auf dem See.
Als Kind verbrachte ich sehr viel Zeit am Urmiasee. Jedes Wochenende fuhren wir mit meinen Eltern meine Großeltern besuchen. Wenn meine Eltern ins Ausland reisten, blieb ich bei meinen Großeltern. Auch die Sommer meiner Kindheit verbrachte ich in Sharafkhane, am Ufer des Sees, zwischen dem Familienhaus und dem Strand. Ich glaube, die vielen Erinnerungen aus dieser Zeit haben dazu geführt, dass ich anfing zu fotografieren.
Was sind das für Erinnerungen?
Der Ort war so klein, dass ich auch als Kind alleine herumlaufen durfte. Die Nachbarn kannten sich untereinander, es war für mich ein sehr sicherer Ort. Das Haus meiner Großeltern lag ungefähr vier Kilometer vom Strand entfernt und ich durfte schon als kleines Mädchen alleine dort hinlaufen oder mit dem Fahrrad fahren. Ich war frei, konnte für mich sein, herumwandern und die Gegend erkunden. Ich sammelte Steine, baute Schlösser daraus und stellte mir vor, wie meine Puppen darin leben.
Damals war der Urmiasee noch riesig, endlos. Auf Farsi nannten wir ihn deshalb auch nicht See, sondern darya – Meer
Wenn ich zum Strand lief, versuchte ich mir den Weg und all seine Details so gut wie möglich zu merken. Abends, zu Hause, malte ich auf, was ich gesehen hatte. Selbst die Schwäne – sie sind auch auf einigen meiner Fotos zu sehen. Vom Bootsverleih meines Onkels durfte ich als Neunjährige alleine ausfahren. Damals war der Urmiasee noch riesig, endlos. Auf Farsi nannten wir ihn deshalb auch nicht See, sondern darya – Meer.
Wie entstand die Idee, über den Urmiasee eine Fotoarbeit zu machen?
Während meiner Studienzeit in Tabris war ich so ins Informatikstudium vertieft, dass ich meine Großeltern jahrelang kaum besuchte. Zeitgleich hatte das Austrocknen des Sees dazu geführt, dass meine Onkel ihr Zuhause verlassen hatten, um neue Arbeit in Teheran zu finden. Meine Großeltern mussten ihr Hotel nach mehr als 30 Jahren schließen.
Irgendwann, ich hatte mein Studium abgeschlossen und arbeitete bereits, beschloss ich meine Großeltern mal wieder zu besuchen und zurückzukehren an den Ort, an dem ich so viele Sommer meiner Kindheit verbracht hatte. Das Motel meiner Großeltern war völlig verfallen: Kaputte Fenster, vertrocknete Gärten, eine Ruine. Ich verbrachte einen ganzen Tag dort im Baumhaus, in das ich als Kind nicht durfte, weil Gäste es belegten. Ein unheimliches Gefühl kam in mir auf, als würde ich zurückspulen, ganz schnell in die Vergangenheit und dann wieder vor in die Zukunft, in der alle weg sein würden. Der See ausgetrocknet, keine Menschenseele mehr da. Da beschloss ich, meine Erinnerungen zu fotografieren.
Wie hat das Austrocknen des Sees das Leben deiner Großeltern und der anderen Bewohner beeinflusst?
Nachdem sie das Motel schließen mussten, weil die Badetouristen wegblieben, verkauften meine Großeltern einige ihrer Felder. Heute leben sie von diesem Verkauf. Viele Bewohner, vor allem die jungen, haben Sharafkhane verlassen, da der Tourismus eingebrochen ist, es keine Arbeit mehr gibt.
Man spricht über früher und darüber, wie der See verschwindet und sich alles verändert. Es ist bei jedem Mal das selbe Gespräch
Als ich 2014 begann wieder regelmäßig zu meinen Großeltern zu fahren und die Wochenenden mit ihnen zu verbringen, geschah etwas erstaunliches: Der Frühling kam und ich beobachtete meine Großeltern dabei, wie sie sich dranmachten das Motel auf den Sommer vorzubereiten. Sie reparierten die Fenster, pflanzten Blumen ein. Sie schrubbten und putzten, als würden sie bald die Hochsaison eröffnen. Dabei hatte es seit zehn Jahren keinen Gast mehr gegeben. Wie Eltern, die ein Kind verloren haben und insgeheim noch denken, es würde eines Tages wieder vor ihnen stehen.
Heute kommt nur noch Familie zu Besuch. Dann spricht man über früher und darüber, wie der See verschwindet und sich alles verändert. Es ist bei jedem Mal das selbe Gespräch.
Woher kommt die rote Farbe, die der See auf einigen deiner Bilder hat?
Seit 2015 ist der Salzgehalt des Wasser immer weiter angestiegen. Das viele Salz fördert bestimmte Bakterien, die diese rote Farbe verursachen. Das wirkt schon sehr dramatisch. Diese Blutpfützen inmitten der ausgedörrten, verwaisten Landschaft. Zunehmend toben dort auch Salzstürme. Die Felder vertrocknen, die Landwirtschaft leidet. Die Bewohner sind natürlich beunruhigt, zumal diese Salzstürme auch Krankheiten wie Augen- und Lungenleiden verursachen.
Früher fühlte sich das Baden im See an wie schweben. Ich war völlig angstbefreit, als ich dort schwimmen lernte. Vor zwei Jahren schwamm ich das letzte Mal wieder im Urmiasee. Ich war unterwegs um zu fotografieren, als ich aus Zufall einen Teich inmitten der trockenen Salzwüste fand. Nicht groß, aber immerhin: Wasser! Abends erzählte ich meiner Mutter und meiner Großmutter davon. Sie wollten sofort wissen, wo ich gewesen war. Am nächsten Tag fuhren wir zurück. Auf dem Teich lag eine dicke Salzkruste. Wir brachen sie auf und legten uns ins warme Wasser. Angezogen, aus Sorge, dass jemand uns hier, inmitten des Nichts, sehen könnte.
Woran arbeitest du derzeit?
Die Arbeit an dieser Fotoserie war ein richtiges Abenteuer. Ich war oft acht Stunden am Tag unterwegs, nur mit meiner Kamera. Um mich herum kein Mensch, kein Vogel, vielleicht der entfernte Klang einer Moschee, ansonsten komplette Stille. Das Schwierigste daran war, dass ich ein ganz bestimmtes Gefühl im Kopf hatte, das ich festhalten wollte. Diese tagelangen, stillen Spaziergänge alleine, fühlen sich im Nachhinein an wie Meditation.
Wenn du als Fotografin eine persönliche Erinnerung verarbeitest und so tief in die Arbeit reingehst, dann entstehen die stärksten Bilder. Ich glaube, ich werde nie wieder so an einer Geschichte arbeiten können. Die Arbeit hat aber auch ein Gefühl der Verbundenheit zur Natur in mir geweckt. Und deshalb mache ich weiter – ich werde in den Süden des Landes fahren und dort die Klimaveränderungen beobachten und wie die Menschen davon betroffen sind. stop
Solmaz Daryani (*1985) studierte zunächst Informatik an der University of Tabriz. Heute ist sie als freischaffende Fotografin tätig. Mit ihren Arbeiten erforscht sie vor allem die Beziehung zwischen dokumentarischem und fiktivem Storytelling. Ihre Landschaftsbilder und Portraits beschäftigen sich mit dem Zusammenspiel von Menschen und ihren Umgebungen. Solmaz hat diverse Förderpreise und Auszeichnungen erhalten, unter anderem ein Stipendium der Magnum Foundation, in diesem Jahr kam sie auf die Shortlist des International Woman Photographers Association Award in Paris. Sie lebt und arbeitet derzeit in Tabriz, Iran.
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Das Interview führte Livia Valensise.