Christian Werner
74. Das Leid der Jesiden
Fotografie Christian Werner
Text Daniel Walter
Es ist windig auf den Bergen rund um die Großstadt Dohuk. Jetzt im Mai leuchten die Hügel schon in sattem Grün. Üppige Wiesen schmücken die Ninive-Ebene und deren Ausläufer, sie sind Ausdruck der Fruchtbarkeit, für die die Region so bekannt ist. 250.000 Einwohner soll die schnell wachsende Stadt zählen. Doch vom Gipfel des Berges aus lässt sich schon mit bloßem Auge erkennen, dass die Region seit 2014 einen enormen demografischen Wandel erfahren hat.
Auf halber Strecke des in der Ferne schimmernden Mosul-Staudammes liegen die Zeltstädte der Hilfswerke der Vereinten Nationen (VN) und anderer Hilfsorganisationen. Das größte von ihnen, Camp Domiz, bietet derzeit 32.000 Menschen Schutz, die vor dem syrischen Diktator Bashar Al-Assad fliehen mussten. Etwa halb so groß ist das Camp Khanke, hier wohnen rund 18.000 Menschen; so gut wie alle von ihnen sind Jesiden und im Herbst 2014 vor Daesh geflohen, als dessen bewaffnete Kämpfer die Stadt Shengal¹ (arab. Sinjar) im Nordwesten des Irak überfielen.
Zeitweise waren bis zu 50.000 Jesiden auf den Gipfeln des Shengal-Gebirges eingeschlossen, bei 40 Grad Hitze, ohne Essen und ohne Trinken
Die genauen Opferzahlen lassen sich noch immer schwer schätzen, doch wird gemeinhin von circa 12.000 Getöteten und 6.300 versklavten und vergewaltigten Jesiden gesprochen. Zeitweise waren bis zu 50.000 von ihnen auf den Gipfeln des Shengal-Gebirges eingeschlossen, bei 40 Grad Hitze, ohne Essen und ohne Trinken. Die Bilder und Berichte über diese Zustände erzeugten international großen Aufruhr und führten zu direkten Eingriffen seitens der USA und anderer westlicher Länder im Irak und in Syrien – zunächst durch das Einrichten einer humanitären Luftbrücke für die im Shengal-Gebirge eingeschlossenen Menschen, kurz darauf mit Luftschlägen gegen die Stellungen des Islamischen Staates.
Das Shengal-Gebirge
Elemente des Jesidentums
Am Fuße des Shengal-Gebirges liegt die gleichnamige Stadt, die seit Jahrhunderten Siedlungsgebiet der ethnisch-religiösen Minderheit der Jesiden ist. Der jesidische Glaube ist eine alte, nicht-abrahamitische Religion, deren Ursprung bis ins 11. Jahrhundert² zurückreicht. Sie enthält sowohl Elemente des Zoroastrismus (Rolle des Feuers), des Christentums (Taufe) als auch des Islams (Beschneidungsritual). Die Vermittlung dieses monotheistischen Glaubens findet primär oral, über den Gesang von Hymnen (qewl) statt. Gott ist hierbei der Erschaffer der Welt und hat ihren Schutz in die Obhut von sieben Engeln/Mysterien, den heptad/heft sirr, gegeben. Die Hauptfigur unter den sieben (Erz-)Engeln ist „Malek Taus/Tausi Melek“, welcher als oberster Statthalter Gottes auf Erden verehrt wird und einen Pfauenvogel zum Symbol hat.
Als jährlicher Wallfahrtsort gilt den Jesiden der circa 50 Kilometer östlich von Dohuk gelegene Ort Lalish. Hier liegt auch der zu Beginn des 12. Jahrhunderts verstorbene Scheich „Adi ibn Musafir Al-Umawi“ begraben, der als menschliche Inkarnation des Malek Taus gilt. Die Abgeschiedenheit Lalishs unterstreicht die spirituelle Bedeutung des Ortes. Sie kann auch symbolisch gesehen werden und damit für ein wichtiges Element der jesidischen Sozialstruktur stehen: die streng praktizierte Endogamie (Eheschließung innerhalb der eigenen sozialen Gruppe).
Nicht selten sieht die jesidische Gemeinschaft sich den Vorwürfen ausgesetzt, sie sei „abgeschlossen“, daher „mysteriös“ und eine Gruppierung von „Teufelsanbetern“. Dieses Bild zeichnet auch ihre Geschichte von Verfolgung und Repression. Der Malek Taus als Satan ist in der anti-jesidischen Rhetorik eines der am häufigsten bemühten Narrative. Über die Vorurteile von Muslim*innen in der Region, wanderte es mittels der Reiseberichte von Europäern ab dem 17. Jahrhundert auch in die dortige Welt aus Mythen, Stereotypen und Verunglimpfungen aus. Neben den Soldaten Daeshs bemüht sich auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Vorwurf der „Teufelsanbetung“ zu verbreiten.
Geschichte politischer, wirtschaftlicher und sozialer Repressionen
Zwar ist das Ausmaß des 2014 begonnenen Genozids durch Daesh in der Geschichte der Jesiden einzigartig, doch fügt es sich in ein von Repressionen bestimmtes kollektives Gedächtnis der Gemeinschaft ein. Die Jesiden nennen das Massaker von Shengal das 74. in der Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft. Die vorherigen 73 Male datieren sie in die Zeit des Osmanischen Reiches, welches vormals die Siedlungsgebiete in der Grenzregion der heutigen Nationalstaaten Türkei, Syrien, Armenien und Irak einschloss.
Doch auch im irakischen Nationalstaat waren die Jesiden Opfer politischer Unterdrückung. Unter der Herrschaft der Baath-Partei Saddam Husseins, waren sie wie viele andere nicht-arabische und/oder nicht-sunnitische Bevölkerungsteile, verschiedensten Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Auch während der verheerendsten Jahre des Bürgerkriegs, zur Zeit der US-Besatzung, wurden Jesiden gezielt von sektiererischen Gruppierungen attackiert. Der der Al-Qaida zugerechnete Anschlag auf zwei jesidische Dörfer in Shengal am 14. August 2007, ist mit über 700 Toten und 1.500 Verletzten einer der opferreichsten in der Geschichte des Irak. Die Muster dieser Jahre – sektiererische Gewalt, ein zentralstaatliches Machtvakuum und ein dementsprechend großer Einfluss von Drittländern – bildeten die Grundlage für die Entstehung Daeshs und wiederholten sich auf dramatische Weise, fast auf den Tag genau sieben Jahre später, Anfang August 2014.
Shengal 2014 – Gefühl des Verrats, Kampf, Autonomie und Anerkennung
Verschiedene Akteure versuchten, insbesondere nach dem Sturz des Baath-Regimes, ihren Einfluss in der Shengal-Region auszuweiten. Allen voran die Regierungen der kurdischen Autonomieregion, des Irak, sowie die PKK. Als Daesh Mitte 2014 rasend schnell in weite Gebiete des Irak vorstieß und die Millionenstadt Mossul eroberte, waren es die Truppen der kurdischen Autonomieregierung (Peshmerga), die Shengal faktisch besetzt hatten³. Trotz der Sicherheitsversprechen gegenüber der lokalen jesidischen Bevölkerung, zogen sich die Peshmerga am 4. August vor dem anrückenden Truppen Daeshs zurück und überließen hunderttausende Jesiden ihrem Schicksal – ein tief in Erinnerung gebliebener Vertrauensbruch, der von vielen als Verrat bezeichnet wird.
2014 lebten ca. 700.000 Jesiden im irakischen Shengal-Gebirge. Heute sind 85% davon ermordet oder vertrieben
In Abwesenheit der irakischen Armee und der Peshmerga, waren es Kämpfer der kurdischen PKK und der YPG/YPJ, die sich Daesh in den Weg stellten und den Jesiden mit US-Amerikanischer Luftunterstützung die Flucht ermöglichten. Auch jesidische (Frauen-)Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ/YJÊ) bildeten sich und konterkarierten somit das allzu häufig gezeichnete Bild einer exotischen Minderheit in der Opferrolle. Doch das Ausmaß der Gewalttaten vom Herbst 2014 wirkt in vielfältiger Weise nach: Bis zu 700.000 Jesiden lebten bis 2014 im Irak, die meisten von ihnen in den Regionen rund um das Shengal-Gebirge. Heute sind rund 85 Prozent der Jesiden ermordet oder mussten ihre Heimat verlassen. Sie leben nun in Camps, wie jenem nahe dem rund 150 Kilometer entfernten Dohuk oder im Ausland.
Die Region bleibt weiterhin umkämpft. Die alten Muster wiederholen sich: Die irakische Armee und mit ihr verbündete Milizen haben nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 die Region an sich gerissen. Doch die Machtkämpfe zwischen PKK-nahen Strukturen, der rivalisierenden kurdischen Autonomie-Regierung und der Armee finden weiterhin statt. Noch immer werden Massengräber gefunden und tausende Menschen vermisst. Nur wenige konnten ihren Peinigern entkommen. Zwei von ihnen sind Nadia Murad und Lamia Aji Bashar. Die beiden Frauen sind als Trägerinnen des Sacharow-Preises zu den Gesichtern des Anliegens geworden, die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesiden durch Daesh international als Genozid einstufen zu lassen. Bislang haben dies nur die Vereinten Nationen offiziell getan, deren Camps die Umgebung Dohuks säumen. Wirkliche Verbesserungen wird es für die Jesiden jedoch nur durch den Erfolg ihrer eigenen Kämpfe geben. stop
¹ Jesiden sprechen größtenteils den kurdischen Dialekt Kurmandschi.
² Die genauen Ursprünge des Jesidentums sind umstritten. Auch eine viel weiter zurückreichende Geschichte ist möglich.
³ Laut irakischer Verfassung soll der Status Shengals in einem Referendum geklärt werden.
Christian Werner (*1987) hat bis 2014 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover studiert. Seine Einzelbilder und Fotostories wurden in zahlreichen internationalen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, unter anderem in Der Spiegel, Die Zeit, TIME Magazine und The Washington Post. Inhaltliche Schwerpunkte sind dabei soziale Ungerechtigkeit und geopolitische Konflikte. Christian hat etliche renommierte Förderpreise und Auszeichnungen erhalten, darunter den CNN Journalist Award, den Hansel-Mieth-Preis Digital und den Lumix Multimedia Award. Im Jahr 2017 wurde er für den Grimme Online Award nominiert und hat den Magnum Photography Juror’s Pick Award erhalten. Seine Arbeiten wurden in der ganzen Welt auf Fachmessen und Fotofestivals sowie in Gallerien ausgestellt. Seit 2016 wird Christian durch die Agentur Zeitenspiegel repräsentiert. Er lebt und arbeitet derzeit als freier Fotograf in Boitzum.
Daniel Walter kennt Irakisch-Kurdistan und die umliegenden Länder durch jahrelanges Reisen, sowie durch Studium und Beruf. Er ist aktives Mitglied bei Alsharq e.V. – Verein für Politische Bildung zum Nahen und Mittleren Osten. Die Plattform für junge Wissenschaftler*innen und Journalist*innen führt regelmäßig öffentliche Veranstaltungen durch und betreibt einen Blog alsharq.de.