Filippo Steven Ferrara
Samin
Als ich Samin vor sieben Jahren in einer Boxhalle in Florenz das erste Mal traf, wusste ich nicht viel von ihr. Auch als wir anfingen uns während des Trainings immer öfter zu sehen, ahnte ich nichts von ihrer Geschichte. Aber irgendetwas an dieser jungen Frau aus Teheran mit dem traurigen Blick ließ mich aufmerken und so begannen wir uns näher zu kommen. Stück für Stück gewährte sie mir Einblicke in ihr Leben, zunächst als Fotograf, später als Freund.
Mit 20 verließ Samin Iran. Sie liebte Frauen und träumte davon Bildhauerin zu werden. Beides war in ihrem Heimatland nur unter Repression möglich und so zog sie nach Italien, um in Florenz Kunst zu studieren. Ihre Freiheit kostete sie, wie viele ihrer Gleichgesinnten, den Kontakt zu ihrer Familie. So war das Ankommen im fernen Europa mit all den Hoffnungen, die sie in diesen „freien Kontinent“ steckte, von Schuldgefühl und Trauer begleitet.
Das große Nichts brach dann nach dem Studium über sie ein. Mit dem Abschluss ihres Masters ging ihr Anspruch auf ein Studentenvisum verloren und Samin war gezwungen sich von einem prekären Job zum nächsten zu hangeln, um in Italien bleiben und überleben zu können.
Über ihr Unglück in Italien schwieg sie. Zu groß war die Scham
Vor drei Jahren fand sie dann eine Stelle als Nachtdienst-Angestellte in einem Hotel im Zentrum von Florenz. 50 Euro bringt ihr jede 14-Stunden-Schicht. Ihre sozialen Kontakte leiden unter der Situation, nur schwer findet sie aufgrund der Nachtarbeit Anschluss. Ihre Beziehung zerbrach. Auch die Trainingsstunden konnte sie wochenlang nicht zahlen und so wich ihre naive Vorstellung vom Sehnsuchtsort Europa der harten Realität.
Als ihre Traurigkeit nur noch mit Tabletten auszuhalten war, überkam sie in ihrer Einsamkeit die Sehnsucht nach Teheran. Ihr Arbeitsvisum wurde schließlich erneuert und sie packte ihre Sachen und besuchte ihre Mutter und Schwestern in Iran. Über ihr Unglück in Italien schwieg sie. Zu groß war die Scham. Ganz zurück in ihre alte Heimat will sie nicht. Zu gefährlich wäre das Leben dort für sie.
Zum Training geht Samin wieder. Wenn sie in dem schwarzen Kampfkäfig in der schattigen Halle steht, mit schweißnassen Haaren, die Lippen vor Anstrengung fest zusammengepresst, dann ist ihr Kampfeswille im ganzen Raum zu spüren. Unter dem scharfen Blick ihres Trainers, einem kahlköpfigen, ehemaligen MMA-Kämpfer, wirkt jede noch so schlagartige Bewegung bewusst gesetzt, fast choreographiert. Und wenn sich ihre Arme um den Körper ihrer Gegnerin schlingen, dann fangen sie fast lautlos, leise ächzend an zu tanzen. Ab und an durchbricht ein lautes, dumpfes Stöhnen die Spannung in der Luft.
Immer wenn ich Samin kämpfen sehe, dann ist es, als tanzte sie mir die Geschichte ihres jungen Lebens vor: Ein Ringen um Identität, um das Ankommen in der Fremde und das Erwachsenwerden.
Filippo Steven Ferrara (*1992) ist in Tegernsee geboren und in Florenz aufgewachsen. Nach dem Studium der Ethnologie in München besuchte er in Rom einen Master in Fotojournalismus an der Officine Fotografiche. Für sein erstes Langzeit-Projekt „Samin“ war er Fellow der Fotojournalisten-Agentur Parallelzero. Filippo wohnt derzeit in Florenz und arbeitet an einem Projekt zur Jugend-Prekarität in Kalabrien.