Karolin Klüppel
Dabu
Das Leben am Ufer des Lugu-Sees ist im Wandel. Zwischen den chinesischen Provinzen Yunnan und Sichuan leben hier, in den Höhen des Himalaya-Gebirges, die Mosuo. Das Leben der chinesischen Minderheit, der heute noch schätzungsweise 40.000 Menschen angehören, folgte jahrhundertelang einer eigenen, komplexen sozialen Struktur. Geprägt war diese seit jeher von der weiblichen Entscheidungsmacht. Als wohl bekannteste Tradition gilt die der Besuchsehe: Paare leben nicht zusammen, sondern besuchen einander nur nachts, im Morgengrauen kehrt der Mann ins eigene Heim zurück. Kinder bleiben ein Leben lang Teil der mütterlichen Familie.
So leben die Mosuo in Großfamilien zusammen, in denen Name und Besitz von der Mutter zur Tochtergeneration vererbt werden. Als Familienoberhaupt ist die Frau für finanzielle Entscheidungen und Verpflegung verantwortlich. Oft wird die Mosuo-Gesellschaft deshalb als Matriarchat bezeichnet, wobei die politische Entscheidungsmacht bei den Männern liegt. Eine eindeutige Definition der Mosuo als matriarchale Gesellschaft ist deshalb umstritten. Dennoch genießen Frauen eine hervorgehobene Stellung, mehr Freiheiten und Verantwortung, als in vielen anderen, vermeintlich fortschrittlicheren Teilen der Welt. Das gesellschaftliche Zusammenleben der Mosuo, so schreibt es der Anthropologe Chuan-Kang Shih, basiert auf der festen Überzeugung, dass Frauen – geistig und körperlich – stärker sind als Männer.
Doch spätestens seit den 1950er Jahren wird diese Form des Zusammenlebens bedroht. Während der Kulturrevolution wurde die Ausübung des Glaubens verboten, Paare zur Ehe gezwungen. Heute ist der Umgang mit der Mosuo-Kultur von Vorurteilen geprägt – oftmals ist von angeblicher Promiskuität die Rede. Die Bräuche und Gepflogenheiten werden von der Chinesischen Regierung als Touristenattraktion instrumentalisiert. Mit dem zunehmenden Tourismus kommt auch die Entwicklung der Infrastruktur, doch der finanzielle Nutzen für die Mosuo selbst bleibt größtenteils aus: Mehr und mehr junge Mosuo ziehen in die nahegelegenen Städte. Das Zusammenleben im gemeinschaftlich organisierten Haushalt wird für die Großfamilien zusehends zur finanziellen Schwierigkeit.
Karolin Klüppels Fotos konzentrieren sich auf diejenigen, die sich an das alte Leben in Abgeschiedenheit noch erinnern können: die älteren Mosuo Matriarchinnen, auch „Dabu“ genannt. Diese Frauen sind stolze Hüterinnen der Mosuo-Kultur – und sich gleichzeitig ihrer akuten Bedrohung bewusst.
Karolin Klüppel (*1985) schloss 2012 einen MFA in Photography an der Kunsthochschule Kassel ab. Seitdem widmet sie sich ausschließlich ihren persönlichen Projekten, in denen sie sich mit den letzten matriarchalen und matrilinealen Gesellschaften unserer Zeit beschäftigt. Ihr Projekt „Mädchenland“ hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. 2016 veröffentlichte sie ihre erste Monografie im Hatje Cantz Verlag.