Fotografie Jan Windszus
Text Jakob Hinze
Jan Windszus
Robinson wacht
Keith Robinson ist der Herr von Niihau. Er tut alles, um die Hawaii-Insel vor Eindringlingen zu schützen. Sein Land soll unbefleckt sein von den Sünden dieser Welt. Niihau soll bleiben, wie es niemals war
Kauai ist groß und hügelig, Niihau ist klein und flach. Nur knapp 30 Kilometer trennen ihre Küsten. Wenn die Passatwinde Wolken bringen, brechen sie über den Erhebungen Kauais auf und bewässern das Land. Niihau liegt im Regenschatten. Kauai ist üppig bewachsen, Niihau ist karg. Lange Dürren prägen das Klima, über Jahrhunderte konnten hier nur Sträucher gedeihen. Die Insel ist ein rauer Fleck im Pazifik.
Das war sie nicht immer. 1864 war ein ungewöhnlich regnerisches Jahr. Die Feuchtigkeit sammelte sich in Niihaus trockener Erde, und die Insel erblühte. Im selben Jahr erhielt sie Besuch von einer reichen Witwe aus Schottland. Elizabeth Sinclair hatte von Neuseeland aus die lange Reise über den Ozean angetreten und kaufte die Insel für Gold im Wert von 10 000 Dollar. König Kamehameha V. hatte ihr auch Teile anderer Inseln Hawaiis als Alternativen angeboten, doch Sinclair entschied sich für das grüne Niihau. Hier, so nahm sie an, würde sich gut Landwirtschaft betreiben lassen. Seitdem ist die Insel im Privatbesitz der Familie. Damals lebten etwa 360 Menschen auf Niihau. Sie sollten dabei helfen, das Land, das nun nicht mehr ihnen gehörte, zu bestellen. Im Gegenzug nahm der König der neuen Herrin ein Versprechen ab: Sollte die Zeit kommen, in der die Inselbewohner ihre Hilfe bräuchten, möge sie ihnen diese gewähren.
Heute gibt es keine Landwirtschaft auf Niihau. Sinclairs Nachfahren mussten bald feststellen, dass sich das Klima nicht dazu eignete, und sie änderten ihre Absicht. Statt Niihau lukrativ zu bewirtschaften, beschlossen sie, die Insel zu schützen. Tierarten, die vom Aussterben bedroht waren, und Pflanzen, die es nirgendwo sonst gab, sollten auf Niihau einen Platz finden, an dem sie weiterleben konnten. Also schotteten sie die Insel von der Welt ringsum ab. Aubrey Robinson, Sinclairs Enkel, untersagte 1915 jedem, seine Insel zu betreten. Nur mit der Erlaubnis der Eigentümer war ein Besuch auf Niihau gestattet. Bis heute hat sich daran nichts geändert.
Einer dieser Eigentümer ist Keith Robinson. Er ist ein Ururenkel Elizabeth Sinclairs und lebt auf Kauai. Auch auf dieser Insel gehören ihm weite Areale und große Anwesen, von denen längst nicht mehr alle bewohnt sind. Von hier aus trägt er dafür Sorge, die Tier- und Pflanzenwelt seiner Inseln zu bewahren. Den Großteil des Tages verbringt Keith Robinson draußen. Er zieht grobe Arbeiterhemden an, setzt einen Helm auf und steigt in seinen Pick-up. Dann fährt er ins Gelände, um zu tun, was zu tun ist. Wenn ein Waldbrand ausbricht, ein Sturm aufzieht oder eine Flutwelle anrollt, packt er an. Keith Robinson zieht es vor, allein zu arbeiten. Diejenigen, die ihn kennen, beschreiben ihn als schmallippig, kräftig, wettergegerbt. Ein Mann, der früh aufsteht und sich nichts aus Luxus macht; der weiß, wie man mit einer Motorsäge umgeht und einen rostigen Truck wieder fahrtüchtig macht. Und der weiß, wie er die raren Pflanzenarten schützen kann, die außer auf seinen Ländereien auf Kauai und Niihau nirgends auf der Welt noch wachsen.
Doch Keith Robinson will nicht nur Pflanzen schützen. Zwar sperrte sein Großvater vor 100 Jahren den Rest der Welt von Niihau aus, aber die Insel ist nach wie vor bewohnt, etwa 150 Einwohner hat sie heute. Das Leben, das sie auf Niihau führen, trägt Züge der Vergangenheit. Um sich mit Fleisch zu versorgen, gehen die Bewohner jagen. Es gibt keine Straßen und kein fließendes Wasser. Kein Krankenhaus, kein Internet, keine Geschäfte. Es gibt auch kein Geld. Keith Robinson sorgt dafür, dass all diese Kennzeichen der Moderne nicht durchdringen bis nach Niihau. Sie kommen nur bis an den Strand: Zahlungskräftige Touristen können sich mit dem Hubschrauber auf die Insel fliegen lassen, an deren Küstenstreifen sie einen halben Tag lang verweilen dürfen. Auch Jagden gehören zum käuflichen Angebot. Doch niemand von außen bleibt länger als einen halben Tag, und niemand darf sich unbeaufsichtigt auf der Insel bewegen. Streng wird darauf geachtet, dass kein Tourist mit den Einheimischen in Kontakt kommt. Niihau ist eine Insel im Archipel – und das in mehrfacher Hinsicht. Geografisch ist sie die westlichste der Inseln Hawaiis, und sie ist isolierter Schauplatz einer Lebensweise, die aus unserer Zeit gefallen scheint.
Keith Robinson hält Niihau rein von dem, was er »die Pest der Zivilisation« nennt. Er ist strenggläubig und hat ein Buch geschrieben, das Approach to Armageddon heißt, Annäherung an die Apokalypse. Es geht darum, dass die Prophezeiungen der Bibel wahr sind und der Antichrist kommen wird. Von den Fehlern mächtiger Politiker beschleunigt, steuert die Welt geradewegs auf den Abgrund zu. Wenn Keith Robinson sich in dieser Welt umschaut, sieht er darin lauter Perversion: Alkohol, Homosexualität, Drogen, vorehelichen Sex, Atheismus und einiges mehr. Er will den Teil der Welt, der ihm gehört, vor diesen Lastern bewahren.
Keiner außer ihm könne Niihau schützen vor der Pest der Zivilisation
Dafür hat er ein Leben lang hart gearbeitet, und er tut das heute, mit über 70 Jahren, immer noch. Mit den eigenen Händen erhält er seinen Besitz, darin hat er seine Aufgabe gefunden, und das ist eine Frage der Überzeugung, nicht des Geldes. Eine Frage des Glaubens. Wenn die Regierung von Hawaii ihm wieder einmal Unsummen bietet, um Niihau in staatliche Hand zu überführen, lehnt er dankend ab. Keiner außer ihm könne Niihau schützen vor der Pest der Zivilisation.
Der zweite Eigentümer der Insel ist Keiths Bruder Bruce. Während Keith Robinson die Flora und Fauna pflegt und meist auf Kauai bleibt, kümmert sich Bruce Robinson um die Belange der Bewohner Niihaus. Doch Keith vertraut seinem Bruder nicht mehr. Erstens hat er sich scheiden lassen, was Keith nicht akzeptiert, und zweitens ist er selbst in unlauterer Weise in die Lebenswelt der Inselbewohner eingedrungen, hat darin eingegriffen, statt sie in ihren ursprünglichen Bahnen zu belassen. Bruce’ zweite Frau ist aus Niihau, mit ihr hat er zwei Töchter, Brendi und Briana, beide um die 20. Sie werden eines Tages die Insel übernehmen, so viel ist gewiss. Aber sie sind Keith nicht gottesfürchtig genug, sie zeigen kein Interesse an seinen Pflanzen. Keith selbst hat weder Frau noch Kinder. Und so muss er sich allein gegen die Tür stemmen, hinter der die sündige Welt lauert.
Selbst auf Niihau ist die Zeit nicht stehen geblieben, nicht seit grauer Vorzeit, nicht seit dem Kauf der Insel durch Elizabeth Sinclair und auch nicht, seitdem Keith und Bruce Robinson die Insel von ihrer Mutter übernommen haben. Es gibt Strom, der aus Solarzellen kommt, es gibt Fernsehgeräte, mit denen man, immerhin, DVDs abspielen kann, und es gibt eine Schule. Die Inselbewohner haben keinen Grundbesitz, aber sie sind auch keine Leibeigenen. Hawaii ist seit 1959 ein US-Bundesstaat, die Inselbewohner sind US-amerikanische Staatsbürger. Sie nehmen an politischen Wahlen teil und genießen alle Rechte, die die Verfassung ihnen garantiert. Und wenn sie möchten, können sie die Insel verlassen. Viele Niihauaner verbringen einen großen Teil des Jahres auf Kauai, um dort auf weiterführende Schulen zu gehen, zu arbeiten oder dorthin gezogene Familienmitglieder zu besuchen.
Wer auf Niihau ist, muss nicht hungern, wenn die Jagd erfolglos war. Einmal im Monat setzt ein ausrangiertes Militärboot von Kauai nach Niihau über, manchmal sogar von Briana gesteuert, und versorgt die Einheimischen mit Lebensmittelvorräten. Für Notfälle gibt es den Hubschrauber der Robinsons, mit dem Kranke oder Verletzte nach Kauai in die Ambulanz geflogen werden können.
Auch auf Niihau ist die Zeit vor dem ersten Sündenfall vorüber. Als der Fotograf Jan Windszus mit Niihauanern sprach, erzählten sie ihm, wovon Keith Robinson nicht erfahren darf. Die Insulaner achten ihn für seine Verdienste, für seinen Einsatz für die Pflanzen, die Tiere, die Menschen. Aber sie nehmen sich auch, was sie selbst vom Leben haben möchten. Wer rauchen möchte, macht das heimlich. Wer sich betrinken möchte, fährt nach Kauai und setzt nüchtern wieder über nach Niihau. Wer sich scheiden lassen möchte, trennt sich von seinem Partner und führt die Ehe nur zum Schein. Niihau ist kein Reservat der Steinzeit. Wenn es sich ganz öffnete, käme es nach kurzer Zeit in der Gegenwart an.
Keith Robinson kann die Flutwelle aufhalten, solange er der Herr und Hüter von Niihau ist. Doch Schritt für Schritt, Stück für Stück kommt die moderne Welt bis auf die verbotene Insel. Kein Wächter hat seine Augen überall. stop
Jan Windszus, Jahrgang 1976, studierte Grafikdesign mit Schwerpunkt Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim. Seit 2005 arbeitet er als freier Fotojournalist und veröffentlicht Porträts und Reportagen in zahlreichen Publikationen. 2013 erschien im Mare-Verlag sein Fotoband „Lissabon“. 2017 folgte eine Mare-Bildband über Griechenland. Jan Windszus lebt in Berlin
www.janwindszus.com
Jakob Hinze, geboren 1991 in Hamburg, lebt seit 2011 in Bayreuth und studiert dort Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Er ist Redakteur und Autor beim Magazin Tonic
—
Die Fotografien zu Robinson wacht sind ursprünglich für die Zeitschrift Mare (Nr. 103) entstanden