Jonas Wresch
Immobilis
Man muss schon ein fleißiger Handwerker sein um seinen festen Wohnsitz auf einen der Campingplätze „Sternsee“ oder „Erlengrund“ im niedersächsischen Gifhorn zu verlegen. Besonders in den Herbst- und Wintermonaten gibt es viel zu reparieren. Die 60 ständigen Bewohner der Plätze erweitern die dünnwandige Isolierung ihrer Wohnwägen und Holzhütten, enteisen Wasserleitungen und flicken das ein oder andere Loch in der Dachpappe über ihren Köpfen. Das Zentrum ihres improvisierten Eigenheims ist oft ein einziges Zimmer mit Essbereich und Bett. Daneben entfalten sich satellitenartig Hütten, die als Badezimmer, Waschküche, Grillhäuschen, zum Trocknen der Wäsche oder zum Aufbewahren von Werkzeug dienen. Wer keine eigene Dusche besitzt, nutzt das öffentliche Badehäuschen. Umgeben sind die beiden Plätze von Pferdekoppeln und einem dichten Birkenwald, in dem viele der Camper im Herbst Pilze sammeln.
Die Rentner Lieselotte und Bernd Bielke lösten 2009 ihre Wohnung in Berlin auf, weil sie sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten und zogen in ihr „Mobilheim“ auf den „Erlengund“. Für ihren 30 mal 30 Meter großen Stellplatz am Waldrand, auf dem sie bis dahin nur warme Wochenenden verbrachten, zahlen sie rund 600 Euro pro Jahr. Die Wahl zwischen einer anonymen Sozialwohnung am Rande der Großstadt und ihrem kleinen Reich im Grünen fiel nicht schwer. Im ersten Winter haben sie sich erst an die neue Wohnlage gewöhnen müssen, sagt Bernd, „aber jetzt können wir uns immerhin den Luxus eines Autos leisten, das wäre sonst nicht möglich“. Nach vielen Jahren in der Gastronomie hat Liselotte Knie- und Hüftprobleme, außerdem leidet sie an schwerer Diabetes. Das Auto brauchen sie daher dringend für Arztbesuche und um ihr Essen von der Tafel in Gifhorn abzuholen.
Auch wenn die Wege gekehrt und die Vorgärten meist ordentlich sind, gibt es viele Konflikte
Heidemarie Brigant und ihr Ehemann Peter Wilke kamen mit ihren Kindern Jay, Fay und Dan 2012 auf den Platz „Sternsee“, der vom „Erlengrund“ nur durch einen Maschendrahtzaun getrennt ist. Sie trafen diese Entscheidung ebenfalls aus finanziellen Gründen, verliebten sich aber schnell in die Ruhe auf dem Platz und die Nähe zur Natur. „Man hat hier keine Straßen, keine Autos, gar nichts – für die Kinder ist es optimal“ findet Heidemarie, „außerdem ist immer irgendjemand für dich da wenn du ein Problem hast“.
Auf dem Platz kennt jeder jeden, oft schon seit Jahrzehnten. Intime Details und Vorgeschichten bleiben da nicht verborgen und auch wenn die Wege gekehrt und die Vorgärten meist ordentlich sind, gibt es viele Konflikte. Häufig kommt es zu massiven Eingriffen in das Privatleben, zu Beleidigungen, Vorwürfen und Klagen, regelmäßig wird die Polizei eingeschaltet.
Aus diesem Grund bilden sich schnell Grüppchen, die beim allabendlichen Bier von ihren Problemen sprechen. Schwierigkeiten mit anderen Bewohnern, Stress mit ihren Kindern und geschiedenen Partner. Sie sprechen von sozialer Isolation und tragischen Verlusten.
„Unser Alltag war von Schlägen und Suff geprägt“, erinnert sich Heidemarie und tut alles dafür, dass ihre Kinder eine bessere Kindheit haben. Obwohl sie und Peter unter den anderen Dauercampern enge Freundschaften geschlossen haben, leiden sie unter der oft angespannten Stimmung und haben sich dafür entschieden den Platz so bald wie möglich wieder zu verlassen. Für viele andere Camper wird die Übergangs- oft zur Dauerlösung.
Jonas Wresch ist ein deutscher Fotograf der zwischen Kolumbien und Deutschland lebt und arbeitet. 2009 begann er ein Fotografiestudium an der Hochschule Hannover und absolvierte daraufhin ein Praktikum bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er arbeitet als freier Fotograf unter anderem für Stern, Cicero, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Audi und die Volkswagenstiftung. Seine Arbeit „Immobilis“ wurde während des Lumix Festivals für Jungen Fotojournalismus 2012 in Hannover ausgestellt und gewann den „Deutschen Jugendfotopreis“ (erster Preis in der Kategorie „unterwegs“) und beim „International Press Photo Festival” in Vilnius, Litauen, (erster Preis in der Kategorie “Homework”). 2014 wurde seine Arbeit „Potosí’s kleine Wächter“ beim Lumix Festival ausgestellt und er für die Joop Swart Masterclass nominiert. Jonas Wresch wird seit 2012 von der Agentur Focus vertreten.