Jörg Brüggemann
Mas Austral
Wenn man bei Google Earth Ushuaia eintippt, fliegt man quer über den Atlantik bis an den südlichsten Zipfel Argentiniens nach Feuerland und zoomt dann hinunter auf einen Berghang am Beagle-Kanal, wo sie mitten im Nichts liegt, wie eine Insel der Zivilisation. Für Hunderte von Kilometern ist sie nur von wilder Natur umgeben, abgesehen von einigen kleinen Haziendas mit Schafen. Ushuaia nennt sich selbst die südlichste Stadt der Welt. Oder auch: Die Stadt am Ende der Welt.
Es ist kein Ort, der einen mit offenen Armen empfängt. Auch im Sommer kann es furchtbar kalt sein, der Himmel ist meistens trüb. Die Lage vor den schneebedeckten Bergen hat etwas Wildromantisches, aber der Stil der Architektur ist eher ein Unstil, mit schnell hingebretterten Häuser, ganz typisch für den Kontinent. Aber alles ändert sich, wenn man mit den Menschen in Kontakt kommt.
Ushuaia ist jung. Was Bruce Chatwin in seinem Buch „In Patagonien. Reise in ein fernes Land“ schreibt, nämlich dass Ushuaia kinderlos und unfreundlich sei, stimmt schon lange nicht mehr. Die Straßen sind voll mit jungen Leuten. Bis Ende der 1940er-Jahre lebten hier fast nur Gefangene, die an diesen abgelegen Ort verbannt wurden. Aber als man in den 1970er-Jahren die Freihandelszone einrichtete, siedelte sich Industrie an. Heute gibt es etwa sechzigtausend Einwohner. Die Kinder der Arbeiter bevölkern jetzt die Straßen und Plätze. Wie ist es jung zu sein und am Ende der Welt zu leben?
Man denkt, das könnte bei mir um die Ecke sein, der könnte mein Nachbar sein oder sogar: Das könnte ich mit 16 gewesen sein
Heavy-Metal-Fans, Konzerte, Skatepark, Einkaufsstraßen – aus der Ferne könnte man denken, Ushuaia sei viel provinzieller. Vielleicht ist das diese eurozentrische Arroganz. Das Ende der Welt gibt es wohl nur noch geografisch. Die Jugendlichen dort sind mittendrin – und genauso globalisiert wie alle anderen auch. Sie verbringen jeden Tag Stunden im Internet, sehen Videos bei YouTube, laden sich Musik herunter. Diese neue Generation bildet fast eine eigene Stadt im Netz. Wenn sie auf die Straße geht, machen alle mehr oder weniger das Gleiche: Sie hängen ab, sprühen Graffiti, gründen Bands, trinken Bier, fahren Skateboard. In Ushuaia sieht man neben den Metallern auch Hardcorer, Punks, Skater, BMXer, Hip-Hopper oder Elektroleute. Es gibt alle Jugendbewegungen in Ushuaia, nur eben im kleinen Maßstab.
Im Alltag der jungen Leute spielt es keine Rolle, dass sie in der südlichsten Stadt der Welt leben. Die meisten möchten hier auch nicht wegziehen, weil es im Vergleich zum Rest des Landes relativ viel Arbeit und wenig Kriminalität gibt. Hier fühlt man sich schnell zu Hause. Wenn man sich durch die Stadt bewegt, vergisst man schnell, wo man ist. Man denkt, das könnte bei mir um die Ecke sein, der könnte mein Nachbar sein oder sogar: Das könnte ich mit 16 gewesen sein. Aber im nächsten Moment erinnert man sich wieder, wo man sich gerade befindet. Dann »beamt« man sich gedanklich wieder hinaus aus Ushuaia und schießt hoch in die Vogelperspektive, weil einem klar wird: Es ist doch das Ende der Welt.
Jörg Brüggemann, wurde 1979 in Herne geboren. Er studierte von 2004-2008 Fotografie an der Hochschule für Künste in Bremen bei Prof. Peter Bialobrzeski. Seit 2009 ist er Mitglied der Agentur OSTKREUZ. Jörg Brüggemann lebt und arbeitet in Berlin.